Politik

Berlin Tag & Macht Aufstand am Katzentisch: Lindner stänkert, Weidel nörgelt

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Alice Weidel durfte zum "Quadrell", Christian Lindner musste zuschauen.

Alice Weidel durfte zum "Quadrell", Christian Lindner musste zuschauen.

(Foto: IMAGO/)

Früher war die Parteienlandschaft überschaubar. Keine schmollende FDP, nur weil die wichtigsten Fernsehdebatten ganz ohne gelben Pullunder daherkamen. Keine rechtsextreme Jeanne d'Arc, die auch als Totalausfall von Internetkriegern zum Weltereignis verklärt wurde. Nur die CDU sorgt für Kontinuität - mit Vicky Leandros.

Die 70er und 80er Jahre waren die politisch geordnetsten Jahrzehnte in Deutschland. Die Parteienlandschaft beschränkte sich auf enge Options-Radien: CDU, SPD und FDP. Mitte der 80er gesellten sich noch Die Grünen hinzu. Joschka Fischer ließ sich 1985 im Hessischen Landtag in weißen Sneakern vereidigen, die damals noch Turnschuhe hießen. In der Kleiderordnung der Hohen Häuser eine Art Gegenstück zum gelben Pullunder von Hans-Dietrich Genscher. Dieser unspektakuläre Tabubruch am Etikettenbuffet war damals das skandalöseste Empörungspotenzial für die politische Boulevardpresse. Es gab ja nur Union, SPD, FDP und Grüne. Entsprechend überschaubar blieb der Wahlzettel. In heutigen Zeiten kaum vorstellbar, wo man mit dem Wahlzettel locker eine mittelgroße Studentenbude tapezieren könnte.

Routinen schaffen Sicherheit. Die ständig suggerierte Angst vor dem Kalten Krieg und dass "der Russe" plötzlich wieder vor West-Berlin stehen und die kapitalistisch prosperierende Bundesrepublik in eine sozialistische Diaspora voller Kuckucksuhren und Bananenknappheit zurückannektieren könne, entlud sich in sehr einfachen Blicken auf politische Player. Stabilität durch Kontinuität. Ablesbar an der Koalitionshistorie der jahrzehntelangen Königsmacher der FDP. Der gelang es durch (sagen wir mal freundschaftlich) ideologische Flexibilität, am Gabentisch der Macht stets mit einigen Ministerposten-Präsenten bedacht zu werden. So etablierte sich die FDP damals als Wendehals-Partei. Von "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" war nichts zu spüren. Kaum verwunderlich, wo Genscher bereits 1969 Minister wurde, Christian Lindner aber erst 10 Jahre später das Licht der Welt erblickte. Viele sprechen von der Genscher-Ära als die Goldene Zeit der FDP. Ohne da jetzt einen Kausalzusammenhang zu Lindner anheimzustellen.

Genscher jedenfalls gelang es, 23 Jahre lang Bundesminister zu bleiben. Allerdings zu einer Zeit, in der das Schreckgespenst der Außerparlamentarischen Opposition seine Zelte des drohenden Bedeutungsverfalls vor Wahlen nicht unmittelbar vor der FDP-Parteizentrale aufgeschlagen hatte. In heutiger Tendenz-Wahrheit zittert sich die FDP nämlich in Umfragen von unten an die 5-Prozent-Hürde heran, nachdem sie ihr starkes vorheriges Ergebnis von 11,5 Prozent durch konstruktives Anti-Teamwork während der Ampel-Regierung erfolgreich gedrittelt hat.

Tulpen der Verzweiflung

Am vergangenen Samstag beschenkte mich ein engagierter FDP-Wahlkämpfer am Berliner Ku'damm aus lauter Verzweiflung sogar mit gelben Tulpen. Auf meine Frage, ob die Freien Demokraten Schnittblumen verteilen, um Vergänglichkeit zu skizzieren, konterte er mit der euphorischen Eilmeldung, bei einem der acht wichtigen Umfrage-Institute läge die FDP nun bei 5 Prozent. Wie sich dieses Ergebnis durch Vergabe von Liliengewächsen stabilisieren soll, die zu Hause nach zwei Tagen geruchsintensiv verwelken, verriet er nicht. Ich regte kurz an, man hätte bei der "Lindner-Tulpe" (Tulipa Liliaceae Lindnea) im Rahmen realitätsnaher Kundenbetreuung vielleicht das "T" gegen ein "N" austauschen sollen, versicherte dann aber sicherheitshalber, ich würde die liberale Zierpflanze unversehrt bis in mein Esszimmer geleiten, dort prominent drapieren und dann auf jeden Fall FDP wählen. Falls jemand also eine Idee hat, wie ich meine vor drei Wochen eingereichten Briefwahlunterlagen kurzfristig zurückfordern und korrigieren kann, bitte eine E-Mail mit dem Betreff "Tulpen" an die Redaktion.

Wir als umworbene Wahlberechtigte schlagen uns jedoch nicht nur mit floralen Bestechungsversuchen politischer Landschaftsgärtner rum, sondern müssen uns inzwischen auf Wahlzetteln mit mehr Parteien zurechtfinden, als man für ein Spendendinner mit Jens Spahn bezahlt. Meinungsbildende Unterstützung erhalten wir via "TV-Duell", "Triell" und "Quadrell". In den zum "Kampf ums Kanzleramt" deklarierten Showdowns treffen die Spitzenkandidaten auf die jeweils fähigsten Politik-Experten der Sender. Bei RTL offenbar Günther Jauch, bei Welt TV Marion Horn und bei ARD und ZDF Sandra Maischberger. Immerhin ein Update zu Stefan Raab, dem Dirigenten des Buzzword-Festivals von 2013, als sich Angela Merkel und (die Älteren erinnern sich) Peer Steinbrück den Fragen der, naja, Journalisten stellten. Sat.1 hält sich im Kanzler-Duell-Business dagegen überraschend zurück. Vermutlich hatten Jochen Schropp und Marlene Lufen keine Zeit.

Schrödingers Migrationskrise

Stichwort Sat.1: Die Galionsfiguren der für die Kanzlerfrage lediglich koalitionsoptional relevanten Parteien plagen derweil andere Sorgen. Sie lamentieren, bei zu wenigen Duellen dabei zu sein. D-Day-Performancekünstler Christian Lindner behauptet sogar, das ZDF hätte signifikante Mitschuld an den traurigen Umfrageergebnissen, weil immer nur Scholz und Merz, nie aber der Jesus der turbokapitalistischen Glaubensgemeinde, also er selbst, eingeladen wären. Und das, obwohl Lindner sich jederzeit für die Erhaltung des Verbrennermotors ans Klimakreuz nageln lassen würde. Markus Lanz, der Richard David Precht des ZDF, konterte, Lindner hätte 2024 85 Einladungen in seine Talkshow erhalten - und alle 85 abgelehnt. Ein weiterer Beleg für die Nähe von Politikbetrieb und Reality-TV: Am Ende zählt die Maximierung der Sendezeit. Immerhin geht es um die Krönung zum Dschungelkönig. Beziehungsweise zum unseriöseren Äquivalent - Kanzler.

Am Sonntag trafen auf der TV-Duell-Tournee in Berlin-Adlershof zur Primetime dann Robert Habeck, Olaf Scholz, Friedrich Merz und Alice Weidel aufeinander. Letztere hatte sich als Kanzlerkandidatin der Suggestivalternative für Deutschland monatelang in die Duelle gequengelt. Ein gleichsam verblüffender wie von Wahrnehmungsverwirrung geprägter Aufwand, jedenfalls wenn man die Resultate betrachtet. Weidel wirkte in Talkrunden stets rollkragenbehütet, aber unvorbereitet und stolperte schließlich strauchelnd durch ein Minenfeld kritischer Fragen, die sie größtenteils ignorierte oder mit einer Mischung aus deplatzierter Arroganz und unsympathischer Ablenkungslache weggauckeln wollte. Garniert mit variantenreich vorgetragenen Sequels von "lesen Sie unser Wahlprogramm", "die Zuschauer sind nicht neutral" und "Tendenziöses Fragen!".

Warum man sich monatelang auf eine TV-Bühne nörgelt, nur um dort seine inhaltliche Insolvenz zu dokumentieren, wird wohl Weidels Geheimnis bleiben. Wobei: Zuspruch der AfD-Fanbase ist ihr natürlich dennoch sicher. Schon Minuten nach Sendestart ist man in allen Social Media Kommentarspalten sicher, Weidel habe jeden rasiert und niemand könne ihr das Wasser reichen. Und falls doch, dann nur durch Manipulation der Mainstream-Medien. Tausende Diskursteilnehmer, die im Durchschnitt fünf Follower, Hundebild-Avatar und eine illustre Historie im Verteidigen von Wladimir Putin vorweisen, versichern sich gegenseitig, nur Weidel könne unser Land noch retten. Für Ritter des Ordens der intellektuellen Bankrotterklärung reicht es aus, jedes Thema mit "Migranten sind schuld" zu beerdigen, um zur Jeanne d’Arc des Abendlandes ausgerufen zu werden. Dass Weidel mit ihrer verfassungsschutzseitig teilweise als gesichert rechtsradikal eingestuften Partei den skurrilen Standpunkt vertritt, Migranten könnten uns hier gleichzeitig die Steuergelder vom Kopf fressen und unsere Jobs stehlen, macht sie aber höchstens zum Testimonial für Schrödingers Migrationskrise.

"Theo, wir fliegen im Privatjet nach Lodz"

Um ein realistisches Bild eines TV-Schlagabtausches zu zeichnen, habe auch ich mich am Sonntag zum großen "Quadrell" eingefunden. Abseits der TV-Bilder gab es zu beobachten, welche prominenten Unterstützer sich die Parteien in ihre Claqueur-Teams akquiriert hatten. Nachdem Team Laschet 2021 mit dem Experiment gescheitert war, Polit-Koryphäen wie Influencerin Victoria Jancke zur Stimme der Unionsjugend zu machen, setzt Team Merz im Wahlkampfendspurt auf die Kraft der Volksmusik. Aus Angst, versehentlich in eine #SöderIsst Produktion zu stolpern, hielt ich mich zwar vom Currywurststand am CDU-Zelt fern, konnte aber zumindest Schlagerbarde Maxi Arland und Vicky Leandros identifizieren. Darüber, ob Leandros später am Abend noch ihren Merz-Hit "Theo, wir fliegen im Privatjet nach Lodz" schmetterte, kann ich nur spekulieren. Ergänzend hatte Merz noch Ex-Nationaltorhüter Roman Weidenfeller aufgeboten, der mit seinem Evergreen "I think we have a grandiose Saison gespielt" mehr für das deutsche Kulturgut getan hat als die Lyrikversuche von Tino Chrupalla und Andrea Berg zusammen.

Während sich Scholz, Merz, Habeck und Weidel auf der großen RTL-Bühne gegenseitig erklärten, keine geeigneten Kanzler zu sein, musste der aufgrund seines latenten Wählerschwundes ungeladene Christian Lindner vom heimischen Sofa aus operieren. Der auf die Auswechselbank formschwacher Ergänzungsspieler verbannte Schattenfinanzminister nutzte die Chance mit seinem pünktlich zum "Quadrell"-Start abgesetzten Tweet "Geil. Eine Forsa mit 5.", den er mit einigen Raketen-Emojis und dem offiziellen Debatten-Hashtag #Quadrell schmückte. Sich als Nichtteilnehmer einer TV-Debatte selbst zum Gewinner auszurufen, ist wahrnehmungsrealistisch etwa, wie zu behaupten, es gäbe aktuell keine Mannschaft, die eindeutiger Favorit auf Meisterschaft und Champions League wäre als Borussia Dortmund. Einige Minuten später bemerkte das sogar BVB-Edelfan Lindner und löschte den Tweet. Ob er sich mit diesem fulminanten Begeisterungsoffenbarungseid final über die 5-Prozent-Hürde twittern konnte, verrate ich dann am nächsten Donnerstag.

Quelle: ntv.de

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