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Beim Bataillon Donbass Wenn "Alabama" schlafen will, kommen die Bilder

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Die Russen machen gezielt Jagd auf Sanitäter, berichtete kürzlich Militärexperte Gustav Gressel. Das Bild zeigt einen Rettungssanitäter nahe Awdijiwka - nicht "Alabama".

Die Russen machen gezielt Jagd auf Sanitäter, berichtete kürzlich Militärexperte Gustav Gressel. Das Bild zeigt einen Rettungssanitäter nahe Awdijiwka - nicht "Alabama".

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

Rettungssanitäter haben in der Ukraine die höchste Rate an Verlusten - denn die Russen machen gezielt Jagd auf sie, um die Moral der Ukrainer zu untergraben. "Alabama" fährt fast täglich an die Front, um Verletzte zu bergen.

Rauchschwaden umhüllen die Häuser an diesem Abend in Slowjansk. Der Rettungssanitäter mit dem Rufzeichen "Alabama" fährt fast jeden Tag dorthin, wo der Rauch herkommt. Er birgt Verwundete, im Militärjargon "Fracht 300". Mindestens 1500 Verwundete haben er und sein Team an 500 Einsatztagen schon von den vorderen Linien geholt. Alabama ist stolz darauf, dass ihm noch niemand gestorben ist, niemand zu einer "Fracht 200" wurde, wie Gefallene genannt werden. Offenbar hat er einen starken Schutzengel, denn er selbst wurde noch nie schwer verletzt, "nur" Schrapnellkugeln rissen ihm Wunden ins Fleisch. Dunkle, tiefe Narben an seinen Beinen zeugen davon.

Alabama spielt ein Video vor, das von einer ukrainischen Drohne aufgenommen wurde und sein brennendes Fahrzeug zeigt. Er selbst liegt einige Meter weiter in einer Kuhle in Deckung. Auf einem abgefangenen Gespräch der Russen ist zu hören, wie sie den Beschuss der Sanitäter geplant hatten. Moderner Krieg aus drei Dimensionen - selbst erlebt, von Freunden gefilmt und vom Feind kommentiert. Später erzählen Alabamas Kameraden von Bataillon Donbass, dass die Zielplanung der Russen einem anderen Fahrzeug galt, nicht dem von Alabama. Niemand wollte dem Lebensretter in seinem Beisein widersprechen; vielleicht kann er das Erlebnis mit der leicht dramatisierten Variante besser verarbeiten. Ohnehin kann er nachts kaum schlafen. Oft sieht er den Schwerverwundeten vor sich, der unbedingt eine Zigarette rauchen wollte, trotz aufgerissenem Brustkorb. Es hätte sein letzter Wunsch sein können, aber vielleicht würde der auch wegen der Erfüllung dieses Wunsches sterben. Alabama gab ihm die Zigarette, der Verletzte machte einen Zug. Dann kam Rauch aus seinem Brustkorb heraus.

Alabamas Fahrer Sergej erzählt, sie seien bisher bei jedem ihrer Einsätze von den Russen beschossen worden, oft von Flugzeugen aus. Er hat im Auto eine Kamera installiert, die auf die Hintertür gerichtet ist, wo sie die Verwundete ins Auto schieben. Auch er zeigt ein Video. Sie drücken Beruhigungsspritzen in blutende Körper, binden Arme und Beine ab, die Verletzten schreien und wimmern vor Schmerzen. Dann der heftige Einschlag einer Rakete in der Nähe, Panik in den Stimmen der Retter, der nächste Einschlag eines schweren Geschosses, wieder knapp vorbei.

"Die Russen jagen die Sanitäter ganz gezielt"

Die Russen machen gezielt Jagd auf Sanitäter, berichtete kürzlich auch Militärexperte Gustav Gressel. "Wenn auf dem Schlachtfeld Trupps auftauchen, die Verwundete bergen, wenn der Verdacht besteht, dass da qualifizierte Sanitäter sind, wird sofort das Feuer auf sie konzentriert. Die Russen jagen sie ganz gezielt, um die Moral auf der ukrainischen Seite zu untergraben." Sanitäter hätten derzeit prozentual die höchste Gefallenenzahl in der ukrainischen Armee. "Sie haben die höchste Rate an Verlusten."

Sergejs Frau lebt mit ihren gemeinsamen Kindern im Norden, im Oblast Sumy, gar nicht weit von der Grenze zu Russland. Wie er das aushält, hier die Verwundeten zu bergen, jeden Tag mit dem Tod konfrontiert, dort seine Familie zu wissen - man begreift es nicht. Bei seinem ersten Einsatz zitterten ihm die Hände, erzählt er. Nun redet er besonnen und nachdenklich auch über schlimmste Verletzungen, über zerfetzte Körper, einen Mann ohne Gesicht. Zugutekommt ihm, dass er selbst eine militärische Ausbildung hat und Kommandeur einer Artillerieeinheit war. Doch wegen einer Augenschwäche kann er in diesem Bereich nicht mehr arbeiten.

Zu Beginn des Krieges sagte er seiner Frau und seinen Eltern noch, dass es das Schlimmste sei, sich an den Krieg zu gewöhnen. Jetzt erlebt er das offenbar. "Wenn man in den Krieg kommt und zum ersten Mal einen Toten sieht, dreht sich alles in der Seele um, das Mitgefühl kocht über. Denn man weiß, dass er nach Hause zu seinen Eltern gebracht wird, und dort wird große Trauer sein. Aber dann gewöhnt man sich doch daran, es wird zu einer Arbeit und man nimmt sich selbst als Roboter wahr."

Anfangs war es ihm peinlich, die Taschen der Toten zu durchsuchen. "Das hatte ich natürlich vor dem Krieg noch nie gemacht. Die Taschen waren oft blutverschmiert. Vielleicht ist da ein Ausweis drin und ich muss sie identifizieren, vielleicht findet man ein paar persönliche Gegenstände, ein Telefon. Es muss einfach gemacht werden, keine Angst, es muss einfach gemacht werden", redet er sich noch im Nachhinein selbst gut zu.

Selbst Nachtsichtgeräte und Bandagen fehlen

Die Jungs vom Bataillon Donbass meinen, als Besucher sollte ich mir nicht nur theoretische Kenntnisse über den Krieg aneignen, sondern auch praktische. Das heißt, ich müsste mal in ihrer Ausrüstung ein paar Läufe absolvieren, um zu fühlen, welche Lasten sie zu tragen haben. Also kleiden sie mich vollständig an, mit Schutzweste, Helm und Knieschützern. Dazu gibt es den vollgepackten Rucksack, zwei Pistolen, Munition und ein Beute-MG. Gnädigerweise verzichteten sie darauf, mir auch noch Wasser, Nahrung, Notfallpäckchen und andere nützliche Utensilien mitzugeben.

Als untrainierter Laie schwankt man schon im Stehen unter dem Gewicht, aber sie müssen mit ihm laufen, robben, schießen, essen und ihre Notdurft verrichten. So vollständig ausgerüstet haben sie vier Monate lang ununterbrochen gelebt und "gearbeitet". Vier Monate ohne einen einzigen Ruhetag. Manchmal konnten sie für ein oder zwei Stunden schlafen. Die Nächte müssen besonders grauenhaft gewesen sein, denn sie haben nicht genug Nachtsichtgeräte. An ihren Frontabschnitten haben die Feinde mehr. Vielleicht werden Nachtsichtgeräte von den westlichen Partnern als gefährliche Angriffswaffen bewertet, mit denen die Ukrainer auf russisches Territorium sehen könnten? Unglaublich, wie gut und wie weit man mit ihnen im Dunkeln sehen kann - und gesehen werden kann. Es sieht aus, als sei alles aus dünnem grünem Glas, die Bäume, Häuser, Menschen und Waffen, eine Märchenwelt des Todes.

Der Sanitäter Alabama klagt, er habe nicht ausreichend medizinische Bandagen, Größe 100 Millimeter. Kleinere hat er genug. Mit den großen Bandagen könnte er mehr Gliedmaßen und Leben retten. Aber diese Bandagen sind Mangelware. Auch Tragen zum Transport der Verwundeten hat er nicht genug, er muss sie irgendwoher besorgen, vielleicht eintauschen gegen andere Mangelware, oder über Spenden finanzieren. Es ist schwer zu begreifen: Ukrainer sterben oder tragen schwerste gesundheitliche Schäden davon, weil ihnen Binden und Ferngläser fehlen.

Quelle: ntv.de

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