Zwei Gewehre für 22 Soldaten? Beim russischen Nachschub hakt es massiv


Nur eine Handvoll Schuss für jeden Soldaten, beklagen die russischen Kämpfer.
(Foto: picture alliance / abaca)
Seit Monaten produzieren russischen Waffenfabriken rund um die Uhr. Trotzdem beschweren sich Soldaten an der Front, dass sie mit "Stöcken" gegen ukrainische Panzer kämpfen müssten. Denn im Land der Kalaschnikow hakt es bei der Produktion und Lieferung von Waffen und Munition.
Nach eigenen Angaben sind die russischen Soldaten der 72. Brigade bei Bachmut in der ukrainischen Region Donezk stationiert. In einem Video, das Anfang Juli auf Telegram hochgeladen wurde, begraben sie gerade einige Kameraden, die lebendig in einem russischen Kampffahrzeug verbrannt sind. Sie hätten auf Befehle gewartet, sagen die Soldaten wütend in die Kamera. Doch statt eines russischen Angriffs gibt es tödlichen ukrainischen Beschuss.
Die Schuldfrage ist für die russischen Soldaten längst geklärt. "Verdammte Kommandeure, kommt zur Besinnung", beschweren sie sich über langsame Befehlsketten, die aber längst nicht der einzige Grund für die Wut sind, wie die Männer deutlich machen. "Gebt uns Munition! Gebt uns Fahrzeuge!", wettern sie, greifen sich in ihre Hosentaschen und kramen die verbliebenen Vorräte heraus: eine Handvoll Schuss für jeden Soldaten. "Wir haben zwei Gewehre für 22 Leute", fluchen sie. "Das ist alles. Verfluchte Mistkerle."
Und mehr wird es nicht geben, wie die Männer der 72. Brigade in der Aufnahme unmissverständlich deutlich machen. "Sie verbieten uns, neue Munition zu holen", beschwert sich ein weiterer Kämpfer. "Gestern sind wir losgefahren, um Nachschub zu besorgen. Aber wir wurden auf halber Strecke gestoppt und aufgefordert, umzudrehen. Sie haben uns gesagt, dass wir nichts bekommen werden. Das sei ein Befehl von oben. Wie sollen wir denn so kämpfen?"
"Natürlich haben sie sich zurückgezogen"
Die Aufnahme aus der Ostukraine ist nicht die einzige von der Front, in der russische Soldaten ein düsteres Bild der Lage zeichnen. Fast zeitgleich berichtete Siberia Realities, ein lokaler Ableger des amerikanischen Rundfunksenders Radio Liberty, über ein Video, das Mütter und Ehefrauen von russischen Kämpfern zeigt. Ihre Söhne und Männer kämpfen demnach seit April in der südukrainischen Region Saporischschja, hätten seit dem 20. Juni aber auch keine Granaten und keine Munition für ihre Gewehre mehr.
"Warum sollen sie mit Waffen kämpfen, die man höchsten als Stock einsetzen kann?", fragt eine der Ehefrauen rhetorisch. "Natürlich haben sie sich zurückgezogen", beschreibt sie, was ihre Männer als nächstes getan haben.
Es sind Berichte, die sich auch mit den Erfahrungen eines russischen Soldaten aus der nordöstlichen Region der Ukraine decken. Anfang Juli erzählte er dem russischen Onlinemagazin "Menschen aus Baikal" von seinem Einsatz in Luhansk. "Soldaten, die mit Maschinengewehren gegen Panzer kämpfen? Das sei die halbe Wahrheit", sagt er in dem Interview. "Denn wenn keine neue Munition geliefert wird, kämpft man mit einem Stock."
Erfolgreiche ukrainische Angriffe
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Russland, dem Land der Kalaschnikow, geht die Munition aus. Darauf deuten die Berichte von der Front hin. Zu demselben Ergebnis kommen aber auch westliche Kriegsbeobachter wie Experten im britischen Verteidigungsministerium: Die russischen Truppen müssen ihre Vorräte rationieren, um einsatzbereit zu bleiben, hieß es jüngst in einem Lagebericht.
Über die Ursachen lässt sich von außen nur mutmaßen. Ein Problem sind sicherlich Angriffe auf russische Munitionslager. Die Ukraine hat in den vergangenen Wochen mehrfach gemeldet, dass sie erfolgreich Depots ins Visier genommen hat. Außerdem haben sehr wahrscheinlich die Angriffe auf die beiden Krim-Brücken, auf Bahngleise und andere wichtige Infrastruktur ihren Zweck erfüllt: Diese Verbindungen sind wichtig für russische Nachschublieferungen an die Front.
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Für diese Annahme spricht, dass die Beschwerden der russischen Soldaten und ihrer Angehörigen gleich drei unterschiedliche Regionen der Ukraine betreffen, den Norden, Osten und Süden. Das ist nicht unerheblich, denn die Front in der Ukraine erstreckt sich über fast 1000 Kilometer. Die einzelnen russischen Truppen werden über verschiedene Routen versorgt.
"Uns fehlen viele Dinge"
Die Munitionsprobleme der russischen Armee scheinen aber nicht erst beim Transport, sondern bereits in der Heimat zu beginnen. Denn während die Ukraine und ihre NATO-Partner ihre Rüstungsproduktion erst mühsam hochfahren, arbeiten russischen Fabriken bereits seit Monaten "rund um die Uhr", wie der Chef des staatlichen Rüstungskonzerns Rostec im Januar erzählte. Ihm zufolge wurden Mitarbeitern sogar Feiertage und Urlaub gestrichen, um die Truppen mit allem nötigen Material versorgen zu können. Gewehrhersteller Kalaschnikow gab zeitgleich bekannt, im ersten Kriegsjahr 40 Prozent mehr Waffen hergestellt zu haben als noch 2021. Doch an der Front scheint die Vollzeitproduktion keinen Unterschied zu machen.
Sie könne keine genauen Zahlen nennen, sagte US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines im Dezember vorher. "Aber unserer Meinung nach kann Russland nicht ersetzen, was es verbraucht. Deswegen fragt Russland in anderen Ländern nach, ob es ihnen Munition abkaufen kann."
Bisher erfolglos, wie der russische Präsident Wladimir Putin indirekt im Juni bei einem Treffen mit Militärbloggern zugab. Seine Truppen seien nicht adäquat für den Kampf in der Ukraine ausgerüstet, räumte er überraschend ein. "Uns fehlen viele Dinge. Präzisionsmunition, Kommunikation, Drohnen. Wir können das herstellen, aber nicht in ausreichender Menge."
Chinesische Bauteile versagen
Speziell die Produktion von Präzisionsmunition, die dank elektronischer Unterstützung zielgenau einschlägt, dürfte unter Sanktionen der EU und der USA leiden. Die US-amerikanische Denkfabrik für strategische und internationale Forschung (CSIS) sagt, dass die russische Rüstungsindustrie wegen Exportkontrollen mehr als 6000 Teile für militärisches Equipment ersetzen müsse.
Das gelingt teilweise. Viele Bauteile, die vor dem Krieg im Westen eingekauft wurden, werden inzwischen von Scheinfirmen in Drittländern bestellt und anschließend illegal nach Russland geschleust. In seltenen Fällen können Komponenten durch heimische Produktion in Russland ersetzt werden. Oftmals greifen die Fabriken aber auf Alternativen aus China zurück.
Doch speziell die Zuverlässigkeit der chinesischen Bauteile scheint einem Münzwurf zu gleichen: Die Zahl der fehlerhaften und defekten Elektronikbauteile im Rüstungsbereich sei von 2 auf 40 Prozent gestiegen, wenn es sich um chinesische handele, gab die russische Wirtschaftszeitung "Kommersant" im Oktober bekannt.
Mitarbeiter der russischen Rüstungsindustrie bestätigen die Probleme. Das unabhängige russische Medium Polygon Media hat eine Reihe von ihnen anonym interviewt und ihre Aussagen im Juni veröffentlicht. Demnach mangelt es in russischen Fabriken vor allem im elektronischen Bereich an allen Bauteilen, egal wie komplex oder simpel. In mindestens einem Werk wurden die Mitarbeiter aufgefordert, veraltete Komponenten zu verbauen oder andere Geräte auszuschlachten. "Nutzt, was ihr auf dem Boden findet", soll ein Werkleiter seine Belegschaft angewiesen haben.
Gefahr einer Selbstzündung
Das Ergebnis zeigt sich auf dem Schlachtfeld. Denn neben russischen Soldaten, die sich über fehlende Munition, Gewehre und anderes Gerät beschweren, machen auch Berichte von Waffensystemen die Runde, die sich beim Einsatz versehentlich selbst zerstören.
Zum Beispiel zeigt ein Video aus Juni ein russisches Tor-Luftabwehrsystem, das mit Kurzstreckenraketen beladen ist und Bodenziele gegen Hubschrauber und Marschflugkörper verteidigen kann, im Kampf gegen die Ukraine aber insbesondere gegen Drohnen. Doch in dem Video nimmt die Rakete nach dem Start nicht Kurs auf ihr Ziel in der Luft, sondern dreht sich einmal lautstark im Kreis und schlägt neben dem Tor-System selbst ein.
Am selben Tag hatte der Generalstab der Ukraine vermeldet, dass die russische Armee große Mengen neuer Artilleriemunition nicht einsetzen dürfe. Aufgrund von Produktionsmängeln bestehe die Gefahr einer Selbstzündung, hieß es.
Die genaue Ursache ist auch in diesem Fall unklar. Woran die russische Produktion hakt, kann abschließend nur Russland selbst klären. Klar scheint aber, dass die russische Verteidigung in vielen ukrainischen Regionen derzeit vor allem aus umfangreichen Minenfeldern und Grabensystemen besteht, nicht aus gut ausgerüsteten Truppen.
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Quelle: ntv.de