War ein Trump-Deal drin? Darum wollte Putin die Ukraine wehrlos


Kreml-Chef Putin mit Tschetschenen-Führer Kadyrow 2024 beim Besuch der russischen Hochschule für Spezialkräfte in Gudermes
(Foto: picture alliance/dpa/Russian President Press Office)
Nach Meinung von US-Präsident Donald Trump gibt es in der Ukraine "eine Führung, die einen Krieg zugelassen hat, den es nie hätte geben dürfen". In einem Statement erklärt er, "Sie hätten es vor drei Jahren beenden sollen. Sie hätten es nie anfangen sollen. Sie hätten einen Deal machen können. Ich hätte einen Deal machen können, der ihnen fast das ganze Land erhalten hätte." Aber die Ukrainer hätten "sich entschieden, es nicht so zu machen".
Aussagen mit hohem Schnappatmungs-Faktor. Zugleich Wasser auf die Mühlen derer, die versuchen, die russische Vollinvasion in einen Kontext einzubetten, der der Regierung in Kiew und der Nato eine Mitschuld am Ausbruch des großen Krieges geben würde.
Macht der US-Präsident das Opfer zum Täter? Oder hatte Selenskyj tatsächlich eine Chance, den Krieg zu verhindern? Was passierte im Februar 2022 und in den Wochen davor und danach, als beide Seiten noch miteinander redeten? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Hätte Selenskyj die russische Invasion abwenden können, indem er einen "Deal" ausgehandelt hätte? Zum Beispiel, die beiden Donbass-Oblaste Donezk und Luhansk Putin zu überlassen?
Ein solches Manöver hätte die russische Invasion nicht verhindert, denn eine Annexion zweier Oblaste war nicht Wladimir Putins Kriegsziel. Seine Kriegsziele und seine Sicht auf das Nachbarland hat Putin schon frühzeitig und klar formuliert - zum allerersten Mal im Jahr 1999, als der damalige Präsident Boris Jelzin den ehemaligen KGB-Offizier Putin zum Ministerpräsidenten Russlands ernannte.
Putins erste Regierungserklärung hatte schon damals drei Schwerpunkte:
- Den postsowjetischen Raum wieder an Russland zu binden.
- Russland durch innere Reformen zu stärken.
- Russland wieder zu einer bedeutenden Weltmacht zu machen
Der letzte Punkt bezog sich in erster Linie auf Russlands Stellung in Europa. In den folgenden 22 Jahren referierte Putin immer wieder über das "historische Unrecht" des Zerfalls der Sowjetunion, das er rückgängig machen würde.
Noch drei Tage bevor die ersten russischen Panzer in Richtung Kiew rollten, stellte der Kreml-Chef die Staatlichkeit der Ukraine überhaupt infrage. Sie sei ein durch Russland unter dem kommunistischen Revolutionsführer Lenin geschaffener Staat. "Wir sind bereit, der Ukraine zu zeigen, was eine echte Dekommunisierung ist", sagte Putin. Selenskyj bot mehrfach Gespräche an, um einen Krieg zu verhindern. Putin reagierte nicht.
Dem Kreml-Chef ging es darum, Kiew zu erobern und dort eine Marionettenregierung einzusetzen. Russische Panzerbrigaden bewegten sich schon früh auf die ukrainische Hauptstadt zu. Sie wurden jedoch von Kiews Verteidigungstruppen ausgebremst und von der Versorgung abgeschnitten. Der Konvoi kam zum Erliegen. Wäre für die Russen alles glatt gelaufen, hätte die Armee schon in den ersten Tagen die Hauptstadt eingenommen.
Auch schickte der Kreml tschetschenische Spezialkräfte und Söldner der Wagner-Gruppe nach Kiew. Eine etwa 400 Mann starke Wagner-Einheit war zu diesem Zweck laut Berichten der "New York Times" schon im Januar in Kiew eingeschleust worden. Tschetschenen und Söldner waren darauf angesetzt, den ukrainischen Präsidenten umzubringen, der in den ersten zwei Wochen der Vollinvasion dreimal nur knapp einem Anschlag auf sein Leben entging. Für einen "Deal" zwischen Moskau und Kiew war keinerlei Spielraum vorhanden.
Im Dezember 2021, zwei Monate bevor die ersten Panzer über die Grenze rollten, präsentierte Putin der Nato einen Vertrag für eine neue europäische "Friedensordnung". Darin verlangte er den Rückbau der europäischen Sicherheitsarchitektur in seinem Sinne. Etwa den Rückzug aller Nato-Truppen auf die Positionen von 1997, also bevor ehemalige Ostblockstaaten wie Polen, Tschechien und Ungarn (1999) sowie unter anderem die drei Baltenstaaten (2004) dem Bündnis beitraten.
Warum ging die Nato nicht auf Putins Forderung ein - um des lieben Friedens willen?
Es kostet deutlich weniger militärische Kraft, einen Angreifer mit den eigenen Verteidigungstruppen direkt an der Grenze zurückzuweisen, als einen Eindringling, der sich bereits im Land befindet, wieder vom eigenen Territorium zu vertreiben. Das war das Kalkül der Russen. Die Nato sollte nicht verteidigungsbereite Kräfte in den ehemaligen Sowjetstaaten vorhalten, die im Angriffsfall sofort hätten reagieren können.
Zum Zeitpunkt, als Putin diesen Plan präsentierte, war in den Baltenstaaten, in Rumänien und Bulgarien jeweils ein Nato-Bataillon stationiert, also eine multinationale Kampfgruppe von 1000 bis 1200 Streitkräften. Sie schützten zusätzlich zu den heimischen Armeen das Territorium. In Polen waren es eine reguläre Nato-Brigade (3000 bis 5000 Soldaten) und eine zusätzliche wegen der Krisensituation.
Das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr zählte im Jahr 2017 an der Nato-Ostflanke rund 290.000 Soldaten insgesamt - Bündnistruppen und heimische Armeen. Sie standen 777.000 russischen Soldaten gegenüber, also einer zahlenmäßig deutlich überlegenen Kreml-Armee.
Gemäß Putins Forderungen hätte man die zusätzlichen Nato-Battlegroups allesamt von der Ostflanke abgezogen. Das bedeutet: Im Falle eines russischen Angriffs hätten sie erstmal wieder nach Osteuropa zurückverlegt werden müssen. Das wäre im Falle der Baltenstaaten besonders gefährlich.
Denn Litauen grenzt an Belarus und an die russische Ostsee-Exklave Kaliningrad. Eingekeilt zwischen diesen beiden russischen Einflusssphären ist das Land mit Nato-Partner Polen nur über einen schmalen Korridor dazwischen verbunden, die sogenannte Suwalki-Lücke.
Im Krisenfall müsste die Masse von Nato-Streitkräften durch diesen Landstrich verlegt werden. Dabei könnten russische Kräfte sie bereits von Belarus oder Kaliningrad aus attackieren. Bis kampfkräftige Verbände an der eigentlichen Front ankämen, hätte die russische Armee vermutlich schon Fakten geschaffen. Es ging Putin jedoch nicht nur um die Streitkräfte selbst.
Zusätzlich dazu, und das ist aus Sicht des Militärhistorikers Gustav Gressel der noch relevantere Punkt, sollte das Bündnis seine gesamte Infrastruktur an der Ostflanke zurückbauen.
"Logistik-Knotenpunkte, gemeinsame Kommandos hätten aufgelöst werden müssen. Militärische Mobilität wäre untersagt gewesen. Sämtliche Aufklärungseinrichtungen, um überhaupt zu sehen, was auf der russischen Seite vor sich geht, hätten abgebaut werden müssen", beschreibt Gressel. "Die Infrastruktur, die man braucht, um Truppen schnell ins Kampfgebiet zu verlegen und anwachsen zu lassen, die hätte auch rückgebaut werden sollen."
Beide Punkte zusammengefasst: Im Fall einer russischen Invasion hätten Nato-Truppen als Verstärkung erstmal verlegt werden müssen. Das komplette Fehlen der Nato-Infrastruktur hätte die Verteidigungskraft des angegriffenen Landes noch mehr geschwächt. Das westliche Verteidigungsbündnis hatte keine andere Wahl, als diese Forderung Putins abzulehnen. Alles andere wäre einer Bankrotterklärung gleichgekommen.
Im April 2022 trafen sich Ukrainer und Russen zu Gesprächen in Istanbul. Es lag ein Angebot des Kreml auf dem Tisch, unter anderem mit der Forderung, die Ukrainer müssten "neutral" werden.
Warum sind die Ukrainer in Istanbul auf das russische Angebot nicht eingegangen? Hätte es nicht Frieden bringen können?
Neutralität hatte Selenskyj Putin schon mehrfach vor dem Krieg angeboten, vergeblich. Was aber die russische Seite in dem Entwurf von Istanbul verlangte, war keine Neutralität, sondern eine Kapitulation.
"Der Kreml wollte die Ukraine komplett unbewaffnet. Ihre Streitkräfte sollten aufgelöst werden, es durfte nur noch Polizeikräfte geben. Die Ukraine hätte russische Truppen auf ihrem Territorium dulden müssen, zugleich wäre ihr verboten gewesen, mit westlichen Militärs überhaupt noch Kontakt zu haben. Sowohl gemeinsame Übungen als auch Einkauf von militärischen Systemen wären unterbunden worden", sagt Historiker Gressel.
"Putin wollte nicht Neutralität, wie sie Finnland oder Österreich im Kalten Krieg hatten. Er verlangte totale Isolation und Wehrlosigkeit." Ziel war es demnach, die Ukraine durch militärischen Druck gefügig zu machen. "Und falls sie sich dem militärischen Druck nicht beugt, dort schnell und kostenlos einzumarschieren." Die "Neutralität" im russischen Sinne hätte die Ukraine dem Kreml ausgeliefert.
Russland hat auch Sicherheitsinteressen. Warum wurden die nicht berücksichtigt?
Die Strategie, Russlands Sicherheitsinteressen einzupreisen ins eigene Handeln, hat die Nato schon vor der Krim-Annexion 2014 viele Jahre lang verfolgt. Die Ukraine (und Georgien) hatten bereits im Jahr 2008 die Mitgliedschaft im Bündnis beantragt. Die USA unterstützten das sehr und wollten die Ukraine sofort aufnehmen. Deutschland und Frankreich hingegen führten die Riege der Skeptiker an, die sich auf dem Nato-Gipfel in Bukarest schließlich nach langen und zähen Verhandlungen durchsetzte.
Problematisch war damals, dass die Ukrainer in Reformprozessen feststeckten. Die Nato setzt Standards mit Blick auf die militärischen Fähigkeiten ihrer Mitglieder, auf das Justizsystem und auch die Politik. In keinem Bereich erfüllte Kiew die Anforderungen, das Land war von Korruption durchdrungen.
Der russische Nachbar torpedierte Kiews Bemühungen um Transparenz, wo es nur ging, um nicht an Einfluss zu verlieren. Es wäre nicht einfach gewesen, die Ukraine in die Nato einzubinden. Zugleich hätte der Nato-Beitritt den Reformern helfen können, den Staatsapparat weiter zu entwickeln.
Ein ebenso wichtiges Argument für die Ablehnung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel war aber der Blick nach Moskau. Wladimir Putin hatte sich zu jenem Zeitpunkt schon oft genug zu seinem Vorhaben bekannt, Russland wieder zu alter Dominanz zu verhelfen, unter anderem auch auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Doch bestand noch die Hoffnung, er könne statt auf militärische Gewalt auf einen Aufstieg zur Wirtschaftsmacht setzen.
Der russische Präsident hielt vor den Nato-Mitgliedern in Bukarest sogar eine Rede und warnte vor einem Beitritt der Ukraine als einer existenziellen Gefahr für das Land. Schlussendlich verweigerte die Nato Kiew, ein Mitglied im Bündnis zu werden. Trotzdem - oder gerade deshalb - konnte Putin im Jahr 2014 zumindest militärisch ungestraft die ukrainische Halbinsel Krim annektieren und besetzte Teile des Donbass.
Quelle: ntv.de