Mängel an der Standardwaffe Das G36 ist eine Gefahr für alle Beteiligten
17.04.2015, 15:36 Uhr
Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihr Amtsvorgänger und jetzige Innenminister Thomas de Maiziere.
(Foto: REUTERS)
Es geht um die Sicherheit deutscher Soldaten. Deswegen ist die G36-Affäre so brisant wie kein anderer Rüstungsskandal zuvor. Für den Hersteller der Waffe steht der Ruf auf dem Spiel, für zwei Minister die Karrieren.
Was sind schon Euro Hawk und A400M? Eine Drohne, die trotz millionenschwerer Investitionen nicht fliegen darf und ein Transportflugzeug, das jahrelang nicht geliefert wird, ärgern den Steuerzahler. Die Probleme mit dem Sturmgewehr G36 stellen eine völlig neue Dimension des Skandals dar.
Das G36 ist seit 1996 die Standardwaffe der Bundeswehr. Im Kosovo, in Afghanistan und am Horn von Afrika hängen die Leben von Soldaten davon ab. Und es ist zumindest nicht ausgeschlossen, dass ein Angehöriger der Truppe bereits verletzt oder getötet wurde, weil sein Gewehr nicht nichtig funktioniert hat. Wer ist für die Mängel an dem Gewehr zur Rechenschaft zu ziehen? Derzeit muss der Hersteller des Gewehrs um seinen Ruf fürchten und zwei Minister um ihre Karrieren.
Heckler und Koch
Hersteller Heckler und Koch konnte die Bundeswehr Mitte der 1990er-Jahre vom G36 überzeugen. Das Gewehr ist besonders leicht, auch weil es größtenteils aus glasfaserverstärktem Kunststoff besteht. Einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zufolge war allerdings schon 1994 bekannt, dass die Waffe bei hohen Temperaturen, die auch durch Dauerfeuer ausgelöst werden können, nicht mehr präzise feuert. Aus einem vertraulichen Bericht des Bundesrechnungshofs vom Juni 2014 zitiert das Blatt: "Eine nachhaltige Beeinflussung des Treffpunktes durch starke Temperaturschwankungen oder Temperaturdifferenzen bei der Nutzung des Gewehrs G36 war damals bekannt und nahezu bei allen Sturmgewehren mit Kunststoffgehäusen festzustellen."

Das G36 besteht zu großen Teilen aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Das macht das Gewehr leicht, aber auch anfällig für Temperaturschwankungen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Heckler und Koch ist sich deshalb keiner Schuld bewusst. Die "Materialbeschaffenheit" sei dem Bund "jederzeit" bekannt gewesen, heißt es vonseiten des Unternehmens. Änderungen am Werkstoff seien stets in "enger Abstimmung mit der Bundeswehr" konfiguriert worden. Hinzu kommt: Dauerfeuer ist in den Ausbildungsrichtlinien der Bundeswehr im Umgang mit dem G36 nicht vorgesehen. In einer Mitteilung vom 31. März 2015 wirft die Firma dem Verteidigungsministerium ein "systematisches Vorgehen gegen Heckler und Koch" vor, das die Reputation des Unternehmens gefährdet.
Die Argumentation des Unternehmens ist dabei offensichtlich: Heckler und Koch hat geliefert, was gewünscht war. Schadlos dürfte die Affäre dennoch nicht an dem Betrieb vorübergehen. Erstens sind die Grenzen des einst hochgepriesenen G36 nun überdeutlich. Zweitens könnte sich das Verteidigungsministerium nach dem Kauf von 180.000 G36-Gewehren nun gezwungen sehen, sich künftig für eine andere Standardwaffe zu entscheiden. Zudem prüft das Ministerium eine Klage auf Schadenersatz.
Thomas de Maizière
In Thomas de Maizières Amtszeit als Verteidigungsminister (2011 bis Ende 2013) häuften sich die Medienberichte über Mängel beim G36. Das Problem war eigentlich nicht mehr zu verschweigen. Dennoch veröffentlichte der Pressestab von de Maizières Haus am 15. September 2013 eine Mitteilung, die heute erstaunlich anmutet: Die Vorwürfe seien längst bekannt und in Untersuchungen ausgeräumt worden, hieß es in der Pressemitteilung. "Die Waffe gilt als insgesamt zuverlässig. Beanstandungen der Truppe über das G36 liegen weder aus dem Einsatz noch aus dem Ausbildungsbetrieb vor." Ungenauigkeiten entsprächen "allgemein bekannten normalen physikalischen Gesetzmäßigkeiten".
Untersuchungen, die noch in de Maizières Amtszeit begannen, führten zu dem Ergebnis, dass bestimmte Munitionstypen zu steigender Treffungenauigkeit führten. Diese wurden aussortiert. All das steht mittlerweile aber infrage.
Für de Maizière ist die Affäre im höchsten Maße rufschädigend. Der CDU-Politiker galt immer als besonders korrekt und stets perfekt organisiert. Man sagte ihm überdies ein Faible für das intensive Studium von Papieren und Akten nach. Dieser Ruf litt schon durch die Euro-Hawk-Affäre. Jetzt könnte endgültig der Eindruck entstehen, dass er sein Haus nicht im Griff hatte. Das wiederum könnte sich nicht nur auf seine Arbeit als Innenminister auswirken, sondern auch auf seine weitere Karriere. De Maizière gilt neben Ursula von der Leyen als einer der wenigen verbliebenen möglichen künftigen Kanzlerkandidaten.
Ursula von der Leyen
De Maizières Nachfolgerin im Verteidigungsministerium, Ursula von der Leyen, erkannte das Gefährdungspotenzial der G36-Affäre und im sogenannten Beschaffungswesen überhaupt früh. Schon kurz nach Amtsantritt versprach sie, im Ministerium aufzuräumen und den Einfluss der Rüstungsindustrie zu beschneiden. Im Sommer 2014 engagierte sie die McKinsey-Managerin Katrin Suder als Staatssekretärin und beauftragte die Unternehmensberatung KPMG, Rüstungsprojekte zu überprüfen. Das war auch ein Versuch, alte Seilschaften zwischen Truppe und Industrie zu zerschlagen.
Vorliegenden internen Berichten, nach denen das G36 keine Mängel aufweist, misstraute von der Leyen und gab eine erneute Prüfung in Auftrag. Das Gutachten, das Experten des Bundesrechnungshofs zusammen mit dem Ernst-Mach-Institut der Frauenhofer Gesellschaft und der zuständigen Bundeswehr-Behörde erstellten, sollen dem Ministerium heute offiziell vorgestellt werden. Schon nach der Einsicht in das vorläufige Ergebnis vor einigen Wochen war von der Leyen aber klar: Das G36 ist unter bestimmten Bedingungen nicht treffsicher. Die Ministerin machte keinen Hehl daraus und wandte sich mit dieser Erkenntnis an die Öffentlichkeit.
Die CDU-Politikerin installierte zwei Kommissionen, eine unter der Leitung des grünen Verteidigungspolitikers Winfried Nachtwei. Sie soll überprüfen, ob Soldaten wegen der Mängel am G36 verletzt oder getötet wurden. Eine Sachverständigengruppe rund um den Commerzbank-Aufsichtsratschef Klaus-Peter Müller soll am Beispiel des G36 herausfinden, was im Ministerium falsch läuft.
Ob von der Leyen so als mutige Aufklärerin aus der Affäre hervorgehen wird, ist dennoch ungewiss. Laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" gab es in der Wehrverwaltung vor einem Jahr eine Initiative zur Verbesserung des G36. Die Ministerin schob diese aber zunächst auf, weil sie das Gutachten abwarten wollte, das sie selbst in Auftrag gegeben hat. Die Opposition sieht darin ein Versäumnis. Die Vertuschungsstrategie sei auch in von der Leyens Amtszeit weitergegangen, sagte die grüne Verteidigungspolitikerin Agnieszka Brugger. "Es wäre scheinheilig, die Schuld alleine ihren Vorgängern in die Schuhe zu schieben und sich als große Aufklärerin zu inszenieren." Den Grünen geht von der Leyens Aufklärung zu langsam. Sie drohen mit einem Untersuchungsausschuss.
Quelle: ntv.de