Reisners Blick auf die Front "Das ist Teil der Wahrheit, über die niemand gern spricht"
08.09.2025, 18:45 Uhr Artikel anhören
Rauch steigt auf nahe dem Regierungsviertel in Kiew am Wochenende
(Foto: IMAGO/Kyodo News)
810 Drohnen in einer Nacht - der massive Luftangriff der Russen traf am Sonntag auch ein Regierungsgebäude. Absicht? Versehen? Oder ein Missgeschick der Ukrainer? Oberst Markus Reisner erklärt, wie die Ukraine sich wehrt gegen die Drohnenwellen - und wo die Tücken liegen.
ntv.de: Herr Reisner, am Sonntag erlebte die Ukraine den größten russischen Luftangriff seit Anfang der Vollinvasion. Er tötete vier Menschen und traf erstmals ein Gebäude im Regierungsviertel. Absicht oder Versehen?
Markus Reisner: Es ist noch unklar, ob die Russen absichtlich auf das Regierungsviertel gezielt haben, oder ob es sich um einen Fehltreffer handelte. Der Einschlag erfolgte im oberen Bereich des Regierungsgebäudes und die Schäden deuten eher auf die Explosion eines kleineren Flugkörpers hin, also zum Beispiel einer russischen Geran-2 -Drohne, aber nicht auf einen Marschflugkörper oder eine ballistische Rakete. Das ist ein heikles Thema, denn es könnte auch sein, dass eine von den Ukrainern mit elektronischen Mitteln gestörte russische Drohne in das Gebäude gestürzt ist. Dies ist aber im Moment noch Spekulation.
Dann hätten die Ukrainer durch das Ablenken der Drohne ungewollt ihr eigenes Regierungsgebäude beschossen?
Das wäre möglich. Man muss nun abwarten, welche Trümmer des Flugkörpers gefunden wurden. Aber die Ukraine würde einer solchen Erklärung natürlich widersprechen und behaupten, es sei ein gezielter russischer Angriff auf das Regierungsviertel gewesen. Und das kann theoretisch auch sein.
Das wäre aber auch eine schlechte Nachricht, oder?
Das Regierungsviertel in Kiew galt bislang immer als besonders gut geschützt gegen Luftangriffe. Aufgrund des Schutzschirms unter anderem durch Patriot-Systeme, die im Raum Kiew stationiert sind, sei es für die Russen gar nicht möglich, bis dorthin vorzudringen - so wurde behauptet. Wir sehen aber hier: Der Übersättigungseffekt durch die Masse an angreifenden Drohnen macht es möglich, dass sehr wohl Flugkörper durchdringen können. War es eine relativ langsam fliegende Geran-2, so ist das kein gutes Zeichen. Es war insgesamt ein neuerlicher verheerender Angriff durch Russland. An 33 Orten wurden Treffer registriert.
Wie groß ist denn das Risiko, dass die Ukraine durch Abwehrmaßnahmen unbeabsichtigt Schäden anrichtet? Passiert das viel öfter, als wir denken?
Wenn Geran-2-Drohnen, ballistische Raketen oder Marschflugkörper auf dem Weg zu ihrem Ziel sind, hat die Ukraine mehrere Abwehrmethoden. Die schnell fliegenden Iskander-Raketen oder Marschflugkörper versucht man mit Fliegerabwehrraketen abzuschießen. Das hat absolute Priorität, weil die Iskander sehr präzise und mit hoher Sprengstofflast einschlägt. Marschflugkörper sind auch Prioritätsziele, zum Beispiel für Fliegerabwehrbatterien des Typs NASAMS, IRIS-T oder Patriot.
Wie aber bekämpft man 810 billige Geran-2-Drohnen?
Die werden vor allem mit Störern im elektromagnetischen Feld abgewehrt, also von ihrer Route abgebracht und vom Himmel geholt. Die Ukrainer gaben an, von 810 russischen Drohnen insgesamt 747 gestört, also vom Flugweg abgebracht, oder abgeschossen zu haben. Das Problem: Wenn die Drohnen in ihrer Flugbahn gestört werden, kommen sie irgendwo runter.
Auch im Wohngebiet?
Im schlimmsten Fall ja. Abgewehrte Drohnen sind auf jeden Fall eine der Ursachen für Treffer auf zivile Ziele. Wohlgemerkt: eine der Ursachen. Nachweislich greifen die Russen schon seit Kriegsbeginn immer wieder zivile Ziele an. Eindeutig ein Völkerrechtsbruch und ein Akt des Terrors. Und das Risiko, mit einer abgelenkten Drohne ein ziviles Ziel zu treffen, gilt übrigens für beide Kriegsparteien. Immer wieder kursieren auch Videos, in denen ukrainische Drohnen in russische Häuserblocks einschlagen, etwa weil sie zuvor von einer russischen Flugabwehrrakete getroffen wurden. Das ist ein Teil der Wahrheit, über den niemand gern spricht.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Wie nah muss man die Drohne denn eigentlich erstmal herankommen lassen, bevor der Störer sie ablenken kann?
Die Ukraine hat ein recht ausgeklügeltes Flugmeldesystem, nach dem Muster der Schalen einer Zwiebel. Das Abwehrsystem beginnt an der Grenze zu Russland und verdichtet sich immer mehr bis zum Kern in Städten wie Kiew zum Beispiel. Zunächst mal erkennt man Drohnen optisch - Personen sehen den Flugkörper am Himmel und melden das fernmündlich weiter. Akustik-Sensoren nehmen das Geräusch der Drohne oder des Marschflugkörpers auf und melden es elektronisch weiter. Wenn schließlich die Radarsysteme der - durch die frühe Erkennung alarmierten - Fliegerabwehr anschlagen und die Drohne erfassen, kann sie erstmals bekämpft werden. Diese Wirkmittel, um die Drohne zu bekämpfen, sind um die großen Städte herum stationiert.
Und man könnte die Drohnen nicht schon früher bekämpfen?
Die Ukrainer haben wenige Fliegerabwehrsysteme großer Reichweite im Osten des Landes installiert, weil sie immer wieder, wenn dorthin verlegt wurde, schwere Verluste erlitten haben. Die Russen sind in der Lage, bis zu 200 Kilometer hinter der Front ohne große Zeitverzögerung für die Zielbekämpfung aufzuklären. Sie erkennen, wenn sich dort ein Patriot-System zu nahe an die Front bewegt. Zwei Patriot-Werfer hat die ukrainische Armee auf diese Art bereits nachweislich verloren. Darum das Zwiebelschalen-Muster: Früh detektieren, dann stören, schlussendlich abschießen.
Womit abschießen, wenn Patriot-Munition zu teuer ist?
Der deutsche Flakpanzer Gepard leistet da gute und billige Arbeit, weil die Munition nicht viel kostet. Die Ukrainer setzen auch Flugzeuge ein. Weil die Drohnen relativ langsam fliegen, lassen sie sich mit zum Teil sehr alten Propellerflugzeugen vom Himmel holen. Die schnellen F-16 werden ebenso eingesetzt, man hat dabei aber auch schon zwei F-16-Maschinen verloren. Der neue Renner sind billige Abfangdrohnen. Die sind seit einigen Monaten im Einsatz und deutlich kleiner als die Geran-2, auf die sie zielen. Sie suchen sich nach dem Start selbst ihr Ziel und schießen es ab, indem sie sich hineinstürzen. Die Ukraine hofft, dass sie mit Massenproduktion dieser Waffe eine weitere Antwort gegen den massiven Drohnenbeschuss der Russen bekommt.
Sie haben allerdings schon oft auf das Katz-und-Maus-Spiel im Krieg hingewiesen: Eine neue Entwicklung bringt nur so lange Vorteil, bis der Gegner einen Weg gefunden hat, diese auszuschalten oder zu umgehen.
Das gilt auch hier, es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Während die Ukraine eine Abwehrmethode nach der anderen entwickelt, erhöht Russland zum einen die Quantität der angreifenden Drohnen, aber auch die Qualität. Gegen die ukrainischen Störer hat man zum Beispiel das Modul "Kometa-M" entwickelt. Wenn es zu einer Störung kommt, kann die Drohne mit "Kometa-M" schnell von GPS auf ein anderes Satelliten-Navigationssystem springen - Glonass etwa oder das chinesische System Beidou. Damit greift die Störung nicht mehr, und das bereitet den Militärs Kopfzerbrechen. Auch auf die Abfangdrohnen gibt es schon eine russische Antwort.
Was ist es?
Man hat vor Kurzem entdeckt, dass die ukrainischen Abfangdrohnen auf unterschiedlichen Frequenzbändern fliegen. Nun bekommt die russische Drohne ein Modul eingebaut, mit dem sie diese speziellen Frequenzbänder scannt und eine Drohne somit im Anflug erkennen kann. Tut sie das, dann fliegt die Geran-2 ein Ausweichmanöver, bleibt aber auf ihrem alten Kurs und lässt sich nicht ablenken. Sie macht es nur der Abfangdrohne schwer, sie zu treffen. Es ist also ständige Entwicklung notwendig, und dafür braucht die Ukraine westliche Ressourcen - Bauteile, Komponenten und vor allem Geld. Ein erstes wirkliches Erfolgsmodell der Zusammenarbeit sehen wir bei den ukrainischen Offensiv-Drohnen. Da unterstützen die Briten und die Deutschen ukrainische Entwicklungen, mit denen die Armee Öl-Raffinerien auf russischem Territorium beschießt. Mit messbaren Ergebnissen.
Moment, Herr Reisner, das sagen Sie wirklich selten. Oft gibt es Erfolgsmeldungen der Ukrainer, und Sie sagen: Ja, schon, aber das ist ein Nadelstich. Das bringt kein messbares Ergebnis. Jetzt sehen Sie eines?
Ja. Wir sehen mittlerweile, wie die Menschen in Russland für Treibstoff Schlange stehen. Zwar bekommt das russische Militär nach wie vor, was es braucht, darum ist die Situation noch nicht kritisch. Aber die Zivilbevölkerung spürt etwas, das schmerzt bereits. Die Ukrainer greifen auch Züge an, die Treibstoff transportieren. Ziel ist es, den Russen quasi die Lebensader abzuschneiden. Die Ukraine versucht nun auf strategischer Ebene in die Initiative zu gehen. Mit ihrer eigenen strategischen Luftkampagne.
Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de