Politik

SPD steuert auf Wahlsieg zu Das rote Comeback folgt einem Plan

Scholz, Klingbeil und Esken: Ein unerwartet reibungslos arbeitendes Trio.

Scholz, Klingbeil und Esken: Ein unerwartet reibungslos arbeitendes Trio.

(Foto: picture alliance/dpa)

Im neuen RTL/ntv-Trendbarometer deutet alles auf Olaf Scholz als nächsten Bundeskanzler. Dass die SPD kurz vor der Wahl so viel Aufwind erfährt, schreiben viele der Schwäche von Union und Grünen zu. Das ist aber nur der offensichtliche Teil der Wahrheit.

Manchmal müssen Menschen tief fallen, bevor sie sich zu einem Neuanfang aufraffen können. Für Parteien scheint das auch zu gelten: Nach der 2013 aus dem Bundestag geflogenen FDP hat auch die ehrwürdige deutsche Sozialdemokratie ein Tal der Tränen durchschritten, um in diesem Herbst fulminant zurückzukehren. Die SPD kämpft wieder um das Kanzleramt. Wie ihr das gelungen ist? Das rote Comeback gilt in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer mehr als Produkt des Zufalls denn als Ergebnis von klugem Handeln und politischer Weitsicht. Doch so sehr die Konkurrenz der SPD in die Hände gespielt haben mag mit den chaotischen Verhältnissen in der Union nach Angela Merkel und der (zu) unerfahrenen Grünen-Kandidatin Annalena Baerbock, so sehr gilt auch: Die einzige Partei, die im Sommer 2021 organisatorisch, personell und programmatisch darauf vorbereitet war, im Herbst Merkels Nachfolge anzutreten, ist die SPD.

Elf Prozent: Das ist der Tiefpunkt eines beispiellosen Bedeutungsverlusts, an dem die Partei 14 Jahre nach dem Ende der Regierung Schröder angelangt war. Dieser bislang niedrigste Wert, den Forsa im Juni 2019 und noch einmal im Dezember 2019 für ntv ermittelt hatte, resultierte aus dem Chaos rund um den schmählichen Rücktritt der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles.

Eine denkbar harte Schule

Die SPD schien in jenem Sommer im freien Fall begriffen - und ging erstmal mit sich selbst in Klausur. Es dauerte fast sechs Monate, bis nach quälend vielen Regionalkonferenzen ein Nahles-Ersatz gefunden war. Die damals unbekannten und bis heute ruhmfreien Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans übernahmen das Steuer im Willy-Brandt-Haus. Dass sie den alten Tanker SPD zurück ins Kanzleramt steuern würden und dieser nicht bei erster Gelegenheit am damaligen Dauerstreit über die Fortsetzung der Großen Koalition zerschellen würde, haben sie wohl nicht einmal selbst geglaubt. Die Wiederauferstehung der SPD - für die sie nicht den Kanzler stellen, sondern sich nur endlich auf Augenhöhe mit der Union wiederfinden muss - kommt mehr als unerwartet. Und sie ist eng verknüpft mit einem Namen: Lars Klingbeil.

Klingbeil ist erst 43 Jahre alt, schöpft aber aus einem außergewöhnlichen Erfahrungsschatz: Nachdem er vor bald vier Jahren vom damaligen Parteichef Martin Schulz zum Generalsekretär gemacht wurde, handelte der einstige Wahlkreismitarbeiter von Bundeskanzler Gerhard Schröder den Koalitionsvertrag mit der Union mit aus. Er warb erfolgreich in der Partei für eine Groko-Fortsetzung, freundete sich aber mit dem Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert an, der die Groko-Gegner anführte. Beide haben seither die Verjüngung der Kandidierenden forciert und die etwas angerostete SPD interessant gemacht für junge Aktivistinnen, wie sie in der Fridays for Future-Bewegung zu finden sind. Zudem organisierte Klingbeil den schicksalhaften Mitgliederentscheid zur Wahl der bis heute amtierenden Vorsitzenden - all das, während sich die Führungsriege um Nahles, Schulz und Sigmar Gabriel öffentlich zerlegte und das Ansehen der SPD erst fiel und dann auf niedrigem Niveau verharrte.

Klingbeil hat sein Amt gelernt, während die SPD die schwerste Krise ihrer Nachkriegsgeschichte erlebte. Der Niedersachse zog seine Schlüsse daraus. Die Analyse zum 20,5-Prozent-Debakel bei der Bundestagswahl 2017 wurde zum Leitfaden dafür, was alles besser werden müsse bei den Sozialdemokraten: die interne Kommunikation, die Geschlossenheit nach außen, die personelle und programmatische Vorbereitung vor der Bundestagswahl. Bei Esken und Walter-Borjans, die so vieles anders machen wollten als ihre Vorgänger und sich vor allem als Vertreter der Basis beworben hatten, stieß er damit auf offene Ohren.

Ein neuer Umgang hält Einzug

"Die wichtigste Lektion war, wir müssen viel früher sagen, mit wem wir antreten", sagt Walter-Borjans über die Aufarbeitung von 2017. "Wir müssen viel früher und in Abstimmung mit allen Ebenen der SPD ein innerhalb und auch außerhalb der SPD lesbares Programm vorlegen." Mit den Zukunftswerkstätten, um die Mitglieder an der Programm-Erarbeitung zu beteiligen, und der Festlegung auf den Kanzlerkandidaten Scholz schon im August 2020 wurde diese "Lektion" umgesetzt. "Dass wir gemeinsame Ziele haben, ist nicht neu. Dass wir über den Weg ihrer Verwirklichung auf Augenhöhe herzhaft debattieren und wissen, dass wir nur gemeinsam stark sind, war nicht immer so", sagt Walter-Borjans und beklagt: "In der Vergangenheit hat Alpha-Männchen-Gehabe immer mal wieder verhindert, dass eine Einigung zustande kam oder Bestand hatte."

Von Alpha konnte zu Beginn des Jahres 2020 tatsächlich keine Rede mehr sein: Die SPD-Schwergewichte der 10er-Jahre waren allesamt von der Bühne abgetreten (Gabriel, Nahles, Schulz, Steinbrück) oder nach Bellevue abgewandert (Frank-Walter Steinmeier). Der letzte Überlebende, Olaf Scholz, war durch die Niederlage im Rennen um den Parteivorsitz auf ein kleineres Format gestutzt. Der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich wird von seinen Abgeordneten geschätzt, ist aber in der Öffentlichkeit blass geblieben. Die neuen Vorsitzenden Esken und Walter-Borjans wiederum haben ein realistisches Bild von ihrem Einfluss auf Fraktion, Kabinett und Außenwahrnehmung der Partei: Er ist gering. Eine gute Voraussetzung, um an der Parteispitze einen neuen Umgang miteinander zu etablieren, einen auf Augenhöhe.

Zweimal die Woche kommen die Parteivorsitzenden mit Scholz, seinem Staatssekretär Wolfgang Schmidt, Mützenich, Klingbeil, dem parlamentarischen Geschäftsführer Carsten Schneider sowie der Bundesgeschäftsführerin Jessika Wischmeier zusammen, einmal die Woche frühstücken die Führung von Partei, Fraktion und die Kabinettsmitglieder zusammen. Scholz, Klingbeil und die Vorsitzenden kommen zudem einmal die Woche mit der Kampagnenagentur Brinkert Lück zusammen, zu der die SPD vor der Wahl gewechselt ist. Darauf angesprochen sagt Walter-Borjans: "Wenn früher von Sprachlosigkeit an der Parteispitze die Rede gewesen sein sollte, dann kann ich sagen, dass sich das um 180 Grad gedreht hat."

Wenn sogar Seeheimer schwärmen

Dass es zwischen der Partei-Linken Esken und dem eher liberalen Scholz funktionieren könnte, wollte im politischen Berlin lange Zeit niemand glauben. Bis heute werden Esken und Walter-Borjans immer wieder mit kritischen Zitaten über Scholz konfrontiert, die sie während des Wettbewerbs um den Parteivorsitz oder in den Wochen danach geäußert haben. Sie stehen im heftigen Kontrast dazu, dass diese beiden Vorsitzenden den zuvor geschmähten Scholz nun als Idealbesetzung für das Kanzleramt bewerben.

Man habe sich kennengelernt, angenähert und vertraue heute einander, beteuern Scholz und die Vorsitzenden. "Wir mögen uns, auch auf der persönlichen Ebene und sagen uns das auch", sagt etwa der frühere NRW-Finanzminister Walter-Borjans über sein Verhältnis zum heutigen Bundesfinanzminister. Fakt ist: Seit eineinhalb Jahren ist kein Dissens zwischen den Führungen von Partei, Fraktion und den Bundesministern öffentlich geworden. Auch das mag dazu beitragen, dass Warnungen der Union, Scholz sei eine Art Trojanisches Pferd von radikaleren Linken wie Esken, bei den Wählern nicht zu verfangen scheinen.

"Ich weiß nicht, was die bei Union und FDP meinen, was da noch kommen soll? Frau Esken und Herr Walter-Borjans arbeiten seit zwei Jahren im Koalitionsausschuss mit. Beide haben die wesentlichen Linien der Bundesregierung miterarbeitet und mitbeschlossen", sagt Siemtje Möller. Die SPD-Bundestagsabgeordnete ist Sprecherin des Seeheimer Kreises, einem Verbund von vergleichsweise konservativen Sozialdemokraten. Auch Möller hat nur Lob für ihre linke Parteiführung: "Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans versammeln sich hinter dem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz und das rechne ich ihnen sehr hoch an." Möller beteuert: "Da passt kein Blatt Papier zwischen Kandidaten und Vorstand." Inmitten des Bundestagswahlkampfs 2017 kommunizierten der Spitzenkandidat Schulz und sein damaliger Vorsitzenden Gabriel zeitweilig nur noch über Bande miteinander.

Die Geschlossenheit zieht

Die neue Geschlossenheit komme auch beim Wähler an, sagt Ye-One Rhie. Sie kandidiert als Nachfolgerin der SPD-Gesundheitspolitikerin Ursula Schmidt in Aachen. "Ich glaube die Menschen wissen zu schätzen, dass wir einen einheitlichen Kurs präsentiert haben, von dem wir nie abgewichen sind, egal, wie schlecht die Zahlen waren", sagt die 33-Jährige. "Wir sind von unserer Strategie überzeugt und haben die geschlossen durchgezogen. Es gab keine Genossinnen und Genossen, die öffentlich gemäkelt haben, weil ihnen die Farbe der Plakate nicht passte oder weil Olaf Scholz irgendwas falsch gemacht oder ihnen was am Programm nicht gefallen hat."

Dass es mit der Überzeugung nicht immer und nicht bei allen so weit her war, räumt auch Schmidt ein, die nach 31 Jahren den Bundestag verlässt. "Wir haben gesagt: 'Ok, wir versuchen es so.' Aber da haben auch nicht immer alle daran geglaubt, dass das so passiert. Das muss man schon so ehrlich sagen." Es ist ja auch tatsächlich erstaunlich, dass weder Scholz noch die Fraktion oder das Willy-Brand-Haus Nerven gezeigt haben, als die Zahlen auch im Sommer noch nicht anzogen, trotz der Fehler Baerbocks und einem von der eigenen Partei angeschossenen Unionskandidaten Armin Laschet.

"Wir waren im Juni nochmal mit den jungen Kandidierenden in Berlin und damals standen wir noch zwischen 14 und 17 Prozent. Da könnte man ja erwarten, dass die Leute unruhig werden", erinnert sich Rhie. "Ich glaube, das zahlt sich jetzt aus bei den Leuten: Die Standfestigkeit in der Parteispitze hat uns geholfen, auch im Vergleich mit den anderen Parteien."

Dass die SPD in den Wochen vor der Bundestagswahl anders wahrgenommen werde, den Eindruck hat auch Möller: "Vor vier Jahren gab es zwar Interesse an mir als neuer Kandidatin, aber nicht so sehr an meiner Partei", berichtet die verteidigungspolitische Sprecherin aus ihrem Wahlkreis Friesland/Wilhelmshaven. "Jetzt erlebe ich auf dem Marktplatz die Situation, dass wenn man fragt 'Darf ich Ihnen noch etwas zur Bundestagswahl mitgeben?', die Leute sagen 'Ja, gern.' Das ist schon etwas sehr Besonderes." Auch weil die Plakat-Kampagne mit den den Schwarzweiß-Porträts auf rotem Grund Aufmerksamkeit erzeugt. Walter-Borjans hatte im Sommer darauf gedrängt, den SPD-Auftrag neu auszuschreiben. "Ich habe meinen Berufsweg im Marketing begonnen und weiß, dass in großen Unternehmen Kampagnen und Agenturen immer mal wieder auf den Prüfstand gestellt werden", sagt der SPD-Chef und freut sich über "eine super Kampagne, für die wir extrem viel Lob bekommen".

Der Prophet

Was nicht nur Außenstehende erstaunt, sondern auch Sozialdemokraten, ist die Exaktheit der Vorhersagen von Generalsekretär und Wahlkampfmanager Klingbeil: "Ich muss Lars Klingbeil loben. Wir sind genau da, wo er uns immer gesagt hat, dass wir da jetzt sein würden: Die Leute merken erst im Laufe der Zeit, dass Angela Merkel nicht mehr antritt, und je stärker dann die Frage nach der Kompetenz der Kandidaten aufkommt, desto mehr kommt Olaf Scholz ins Spiel", sagt die 72-jährige Schmidt. "Und was Lars Klingbeil auch vorhergesagt hat, ist, dass die Leute dann merken werden, dass sie für Olaf Scholz auch die SPD wählen müssen."

Tatsächlich hatte Klingbeil dieses Szenario schon im August 2020 bei der Vorstellung von Scholz als Kanzlerkandidaten prophezeit, lange bevor klar war, wer für Union und Grüne antreten würde. Und wer weiß: Vielleicht hätte der Wahlkampf mit Scholz, dessen Schlagworte Kompetenz und Erfahrung lauten, nicht so beim Wähler verfangen, hätten die Kontrahenten Robert Habeck und Markus Söder geheißen. So aber wurde die Botschaft "Die Wähler werden erst kurz vor Wahl feststellen, dass Angela Merkel nicht mehr antritt und nur Olaf Scholz für ihre Nachfolge in Frage kommt" zu einem Mantra, das bei Journalisten meist ein Stirnrunzeln oder ungläubiges Lächeln hervorrief. Er schnitt den ganzen Wahlkampf daher auf den Kandidaten zu, und die Vorsitzenden trugen das mit.

Nun könnte es Klingbeil sein, der lacht. Um so etwas öffentlich zu tun, ist er zu sehr Stratege. Noch hat die SPD ihren Umfragenvorsprung nicht über die Ziellinie gebracht. Klappt es aber, wird Klingbeil neben Scholz und den Parteivorsitzenden der Dank einer ganzen Partei zufallen - gerade weil er den Hühnerhaufen SPD wieder zusammengebracht hat. "Lars ist ein hervorragender Netzwerker, der Verbindungen schafft und aufrecht erhält", lobt Walter-Borjans. Wahlkreiskandidatin Rhie kann das vom 600 Kilometer von Berlin entfernten Aachen aus bestätigen: "Es gibt unglaublich viel Kommunikation zwischen ihm und den Kandidierenden." Der Generalsekretär wird längst für den Fraktionsvorsitz oder einen Ministerposten gehandelt - der Sohn eines Berufssoldaten und Mitglied des Verteidigungsausschusses könnte Annegret Kramp-Karrenbauer ablösen.

Und Klingbeil selbst? Übt sich in vorsichtiger Euphorie. Nach einem Wahlkampfauftritt von Olaf Scholz in Göttingen freut sich der Generalsekretär über das große Interesse in seiner Heimat Niedersachsen an der SPD und ihrem Kandidaten. "Das zeigt mir, dass wir in diesen Tagen vieles richtig machen auf dem Weg zum 26. September", sagt er. Nicht einmal die Konkurrenz könnte da widersprechen.

Quelle: ntv.de

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