
Gelassenes Selbstbewusstsein: Scholz bei seinem Wahlkampfauftritt in der SPD-Hochburg Göttingen.
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Die SPD wandelt auf wundersamen Pfaden: mit dem Spitzenkandidaten Scholz in Richtung Kanzleramt. Bei der Wahlkampfveranstaltung in Göttingen ist das neue Selbstbewusstsein einer von unerwartetem Erfolg getragenen Partei zu beobachten.
Mehr als 2000 Menschen haben sich vor Göttingens Altem Rathaus versammelt, um den möglichen neuen Bundeskanzler zu sehen, und ihr Applaus ist am lautesten, bevor Olaf Scholz zu reden anfängt. Die Menschen erheben sich von ihren Bänken, als der Vizekanzler - leger im weißen Hemd und federnden Schrittes - die Bühne betritt. Von wenigen Störern aus der linken Szene abgesehen hat Scholz während seines Auftritts am Samstagnachmittag leichtes Spiel: Die historische Universitätsstadt im Süden Niedersachsens, Heimat des vor bald einem Jahr verstorbenen ehemaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann, ist fest in SPD-Hand.
Und weil in Niedersachsen am kommenden Sonntag Kommunalwahlen anstehen, sind neben der Oberbürgermeister-Kandidatin für Göttingen, Petra Broistedt, auch Arbeitsminister Hubertus Heil, Ministerpräsident Stephan Weil und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, ebenfalls Niedersachse, angereist. Anders als die meisten Wahlkämpfe der vergangenen Jahre ist es ein denkbar angenehmer Termin für die Sozialdemokraten. Fast alle Umfragen deuten derzeit auf einen Sieg der SPD bei der Bundestagswahl. Jubeln will deswegen noch keiner auf der Bühne, aber das gelassene Selbstbewusstsein der Redner spricht Bände.
"Der Wind hat sich gedreht"
Wer etwa Arbeitsminister Heil vor allem aus dem Fernsehen oder dem politischen Alltag in Berlin kennt, mag sich wundern, wer dieser fröhlich polternde Mann im dunklen Anzug ist: "Wir bleiben die Partei der arbeitenden Mitte in unserem Land", ruft Heil begeistert. Ausführlich erläutert der Arbeitsminister die SPD-Pläne zur Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro. "Ja, es gehen Arbeitsplätze zurück", referiert Heil über die Auswirkungen der Anhebung. "Und zwar Minijobs, und das ist gut so." Dem Applaus nach kommt das gut an beim überwiegend ohnehin SPD-nahen Publikum.
"Moin", ruft Weil seinen Niedersächsinnen und Niedersachsen lachend entgegen. "Moin", schallt es zurück. Der Ministerpräsident und Landesparteichef spricht zunächst gut gelaunt über die anstehenden Kommunalwahlen, die alles andere als unwichtig sind - nicht nur für die Landespartei. Umfragen lassen erwarten, dass das Wahlergebnis am kommenden Sonntag die Erzählung von der neuerdings beliebten SPD fortschreibt. "Alle, die hier sind, spüren: Der Wind hat sich gedreht", sagt Weil über die Stimmungslage. Und dann ist es so weit: "Begrüßt den künftigen Bundeskanzler", ruft Weil und es wird laut in der schönen, dicht gefüllten Altstadt.
Das selbstbewusste "Ich"
Dass Scholz auch im Bad des Applauses etwas verkniffen guckt, ist vor allem der tief stehenden Sonne geschuldet. Dass der Enthusiasmus hernach nicht mehr gleiche Höhen erreicht, liegt aber an seiner Rede. Der einleitende Appell zum Impfen, "damit wir die Pandemie endlich hinter uns lassen", ist sicher lobenswert: Aber da predigt Scholz zu den ohnehin Überzeugten, ebenso bei vielen Punkten seines "Respekt"-Wahlprogramms, das er noch einmal vorstellt. Die SPD-Pläne haben in Teilen schon die Vorredner umrissen und den anwesenden SPD-Mitgliedern dürften sie bekannt sein. Scholz' Ausführungen zur geplanten Kindersicherung und Rentenstabilität ernten noch am meisten Beifall.
Zumindest zu einer Breitseite gegen die Union, wie sie zum Wahlkampf dazugehört, kann sich Scholz durchringen. Er erinnert daran, dass Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier kürzlich "nuschelnd" habe einräumen müssen, dass der künftige Strombedarf Deutschlands bei den Erneuerbaren Energien deutlich höher ausfällt als von der Union gedacht. "Sie haben sich verrechnet", ruft Scholz. Solche handwerklichen Fehler amüsieren den SPD-Mann, dessen Wahlkampf auf den Schlagworten Erfahrung und Kompetenz aufbaut, fast noch mehr als ideologische Unterschiede.
Scholz' Selbstbewusstsein ist hörbar gewachsen, zu erkennen am oft gesagten "Ich". Sinngemäß sagt Scholz in diesem Wahlkampf: "Ich habe die Kurzarbeit schon 2009 erfunden. Ich habe mit der Finanz-Bazooka Deutschland gut durch die Krise gebracht. Ich habe durchgesetzt, dass die EU in der Krise gemeinsam Schulden aufnimmt." Scholz kann sich in diesem Wahlkampf vor allem deshalb als Merkel-Erbe positionieren, weil er mehr noch als Konkurrent Laschet zur Bilanz der Großen Koalition steht - welch Ironie, nachdem die SPD so lange an der GroKo gelitten hat.
"Wir machen vieles richtig"
Über seine plötzlich exzellenten Zustimmungswerte sagt Scholz in Göttingen einmal mehr, er sei "sehr gerührt", aber: "Umfragen sind noch keine Wahlergebnisse." Die Botschaft: bloß nicht zu früh freuen und auf den letzten Metern nachlassen. Grenzenlosen Enthusiasmus im Publikum muss Scholz nicht fürchten. Eine lange Zeit in der Kommunalpolitik engagierte Zuhörerin berichtet, sie habe in Göttingen schon Willy Brandt erlebt und die Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine und Martin Schulz. Sie persönlich möge ja etwas mehr Feuer. Und Olaf Scholz? "Ich glaube, der ist okay. Die Rede hat er gut gemacht", sagt die Sozialdemokratin. Niemand hat hier einen ganz neuen Scholz erwartet.
Wahlkampfmanager Klingbeil aber ist mehr als zufrieden: "Unsere Erwartungen werden von Veranstaltung zu Veranstaltung übertroffen", sagt Klingbeil zu ntv.de. "Die Menschen wollen Olaf Scholz sehen und hören." Und: "Das zeigt mir, dass wir in diesen Tagen vieles richtig machen auf dem Weg zum 26. September." Allmählich - das sagen andere Spitzenvertreter der Partei hinter vorgehaltener Hand - glaubt die Partei daran, dass ein Wahlsieg zum Greifen nahe ist.
Und weil Erfolg erfolgreich macht, wirkt sich der Trend sogar auf die Außenwahrnehmung von Scholz aus. Dem in den Medien oft als zurückhaltend bis langweilig beschriebenen Vizekanzler haftet plötzlich das Flair des kommenden starken Mannes der Bundesrepublik an: Lange Schlangen bilden sich nach seiner Rede. Menschen allen Alters wollen ein Foto mit dem früheren Ersten Bürgermeister von Hamburg. Scholz' Fleiß und Langmut sind bekannt. Wie sich der an diesem Tag etwas müde Kanzlerkandidat aber mehr als eine halbe Stunde lang ein Dauerlächeln abringt, ist ein Geduldsakt. Doch auf der Erfolgswelle ist alles leichter, auch das Scherzen unter Schmerzen. Als jemand die Echtheit des Gekrakels auf den Autogrammkarten anzweifelt, ruft Scholz: "Die sieht so aus, ja. Damit habe ich Gesetze unterschrieben." Da ist es wieder: das selbstbewusste "Ich".
Quelle: ntv.de