Türkischer Agent vor Gericht Der Spion, der Fake News liebte
07.09.2017, 17:11 Uhr
Sind Fake News besser als Spionage? Für Mehmet Fatih S. wohl in jedem Fall: Der 32-Jährige soll kurdische Aktivisten in Deutschland ausgespäht haben - und fährt vor Gericht eine äußerst merkwürdige Verteidigungsstrategie.
Dicke Schweißperlen glänzen auf der Halbglatze von Mehmet Fatih S. Mit der Zunge fährt der Angeklagte immer wieder nervös von links nach rechts über seine Oberlippe, als wolle er sich davon überzeugen, dass der dichte Schnurrbart noch da ist, wo er hingehört. Schließlich würgt der 32-Jährige die Antwort auf eine Frage heraus, die ihm die Richterin vor einer gefühlten Ewigkeit gestellt hat: "Unsere Absicht war es, zu manipulieren und Fallen zu stellen." Es ist der vorläufige Schlüsselmoment in einem aufsehenerregenden Prozess, der seit heute am Hamburger Oberlandesgericht verhandelt wird und sich der Frage widmet, ob Mehmet Fatih S. für den türkischen Geheimdienst in Deutschland kurdische Aktivisten ausgespäht hat.

Mehmet Fatih S. erzählt auf Türkisch, während seine Dolmetscherin liebe Mühe hat zu folgen. Links lauscht der sehr schweigsame Anwalt des Angeklagten.
(Foto: dpa)
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Angeklagten vor, zwischen September 2015 und Dezember 2016 sowohl kurdische Einrichtungen als auch einzelne Personen ausgekundschaftet und dafür 30.000 Euro erhalten zu haben. Fünf Jahre Haft stehen darauf im Höchstfall: viel zu wenig für die kurdische Gemeinschaft, die S. vorwirft, ein Attentat auf Yüksel Koc, einen ihrer Führer geplant zu haben. "Mord ist nicht Gegenstand der Anklage", stellt die Staatsanwaltschaft zwar bei der Verlesung der Klageschrift klar - aber auch so wiegen die Vorwürfe gegen S. und damit indirekt auch gegen den türkischen Geheimdienst MIT und die Erdogan-Regierung schwer.
Die Lektüre des ersten Absatzes legt zwar genau das nahe, aber von einem Geständnis ist S. noch meilenweit entfernt. Das mühsam hervorgepresste Bekenntnis ist vielmehr Ergebnis einer haarsträubenden Salamitaktik, mit der sich der Angeklagte immer tiefer in der selbstgebuddelten Treibsandgrube versenkt. Doch von vorne: "Ich will detailliert aussagen, die Verteidigung selbst übernehmen und auch die Dialoge mit den Zeugen selbst führen", stellt der Angeklagte direkt zu Beginn der Verhandlung klar. Tatsächlich wird sein Anwalt in den kommenden Stunden kein einziges Wort sagen, obwohl sich sein Mandat nach allen Regeln der Kunst selbst demontiert.
Warum sollte E. für S. lügen?
Seine Geschichte hat sich S. sorgfältig zurechtgelegt: Er beschreibt detailliert, wie er als Reporter für den kleinen kurdischen Fernsehsender Denge TV über das brutale Schlachten des IS in Kobane berichtete, wie er Kinder in jesidischen Flüchtlingscamps mit Keksen und Wasser versorgte und sonst als Natur- und Kulturliebhaber nach Georgien, Russland und in den Iran reiste. Immer mit dabei: seine Geliebte E.: "24 Stunden am Tag, wir waren nie alleine. Sie kann das bestätigen." S. betont das mehrfach, weil die Staatsanwaltschaft davon überzeugt ist, dass S. bereits damals im Auftrag des MIT kurdische Aktivisten ausspähte und in den Flüchtlingscamps Informanten anwarb.
Für den Angeklagten ist diese Einleitung indes so wichtig, weil die Staatsanwaltschaft E. als glaubwürdige Zeugin betrachten dürfte: Sie war nicht nur jahrelang seine Geliebte und später seine Frau, sondern auch der Grund dafür, dass der Angeklagte den Behörden im Dezember 2016 schließlich ins Netz ging: S. offenbarte sich damals anscheinend seiner Frau in der Hoffnung, sie ebenfalls als Agentin rekrutieren zu können - die aber warnte nicht nur Kurdenführer Koc vor der drohenden Gefahr, sondern wandte sich auch an die Behörden. Das alles ist zwar an diesem Verhandlungstag noch kein Thema, wohl aber der Grund für den Angeklagten, sie immer wieder als Entlastungszeugin zu erwähnen: Warum sollte E. schließlich für S. lügen?
Dass das am Ende vielleicht gar nicht notwendig sein wird, weiß S. zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht: Der Angeklagte zeichnet weiter an dem Bild des mitfühlenden Journalisten, als den er sich dem Gericht präsentieren will: Aus Rücksicht vor seiner zu Hause gebliebenen Frau und den gemeinsamen Kindern will er sich eigentlich schon von E. trennen - entscheidet sich aber nach einem missglückten Selbstmordversuch seiner Geliebten doch noch anders, aus Angst, sie könnte beim nächsten Mal mehr Erfolg haben. Alles auf Anfang also: E. möchte nach Deutschland und S. erfüllt ihr diesen Traum.
Vom Samariter zum Fake-News-Produzenten
Der Angeklagte lobt gerade die ersten Wochen in der neuen Heimat in den höchsten Tönen, als die Richterin genug hat: "Sie sind bereits an vielen Tagen vernommen worden. Aber haben Sie schon jemals diese Version erzählt?", fragt sie. Langes Schweigen, dann ein kleinlautes Nein. Und plötzlich ist die Geschichte des Angeklagten eine ganz andere: Von Notlügen im Asylantrag ist die Rede und anderen "notwendigen" Dingen in der "schweren Anfangszeit". Die Richterin lässt sich das aber nun nicht mehr bieten, sondern drängt den Angeklagten immer wieder in die Enge oder stellt Aussagen in Frage - und jedes Mal rückt S. ein weiteres Stück von seiner Ausgangsstory ab. Nach zwei Stunden hat er sich vom barmherzigen Samariter mit Journalistenausweis zu einem Fake-News-Produzenten degradiert, der manipuliert und fälscht, wo es ihm nützt. Nur ein Spion, das will er partout nicht gewesen sein.
Und ist es am Ende wohl doch, auch wenn S. das selbst nicht so nennen würde: In der vorläufig finalen Version seiner Geschichte berichtet er von seiner Anwerbung: Rein zufällig trifft er irgendwann im Jahr 2015 bei einem Türkeibesuch in einer Polizeistation an der türkisch-syrischen Grenze auf zwei Beamte, die in der Terrorabwehr tätig sind. "Wir haben zusammen Tee getrunken und uns freundschaftlich unterhalten. Auch über Terror. Ich habe dann gesagt: Wenn ich etwas tun kann, um euch zu helfen, stehe ich jederzeit zur Verfügung."
Bereitwillig teilt er mit ihnen seine Deutschlandpläne, die beiden fragen ihn aus: "In Deutschland gibt es viele PKK-Anhänger, haben Sie mit denen Kontakt?" Nein, will S. geantwortet haben, nur mit einem: Yüksel Koc. "Aber", wiegelt er sofort ab, "die beiden Beamten wollten auf keinen Fall etwas von mir. Außerdem sollte Koc ja angeblich in Düsseldorf sein und nicht mehr für ein Folgeamt (in mehreren kurdischen Organisationen, Anm. d. Red.) kandidieren. Ich selbst habe ja da schon in Bremen gewohnt, weder ich noch Koc waren also interessant für sie." Trotzdem tauscht er Adressen mit den Beamten aus und fliegt zurück nach Deutschland.
"Yüksel Koc war für uns ein guter Freund"
Die Richterin hat den Angeklagten jetzt endgültig am Haken, und S. weiß das auch: Der 32-Jährige wird immer nervöser, korrigiert sich häufig und erzählt seine Geschichte noch fragmentierter und wirrer als ohnehin schon: Bei einer Demo gegen die Aufhebung der Immunität türkischer Abgeordneter im Mai 2016 fotografiert er einen Polizeibeamten in Zivil und behauptet zunächst, "viele Fotos aus verschiedensten Perspektiven" gemacht zu haben, ohne den Polizeibeamten im Visier gehabt zu haben. Kurz darauf wird er mit einem von ihm mit Kommentaren versehenen Foto konfrontiert, auf dem er den Zivilbeamten als Bremer Polizeichef "mit direktem Kontakt nach Berlin" bezeichnet - und rudert einmal mehr zurück: "Das ist Zufall, ich wusste nicht, dass der Mann tatsächlich Polizist ist", sagt der Angeklagte - er wollte sich nur bei der kurdischen Community wichtigmachen.
Fake News sind ab sofort die magische Erklärung für alle weiteren Aktivitäten, die nicht nur der Staatsanwaltschaft merkwürdig erscheinen. Ein geplatzter Werbedeal, über den E. und er einmal "sehr wütend" gewesen seien und eine Geschichte erfunden hätten, die den verhinderten Geschäftspartner mit der PKK in Verbindung bringen sollte, ist der Auftakt zum Höhepunkt dieses Verhandlungstages: "Yüksel Koc war für uns ein guter Freund", hebt S. an. "Deswegen haben wir uns dazu entschlossen, Nachrichten weiterzugeben - allerdings nur falsche!" Und zwar ausgerechnet an jene beiden Anti-Terror-Beamten, die angeblich nie etwas von S. gefordert hatten. Warum sich der Angeklagte trotzdem gezwungen sah, proaktiv zu handeln, bleibt vorerst sein Geheimnis.
Durch die Zuschauerränge geht bei S. Enthüllung ein Raunen: Hier ist man sich jetzt schon einig, dass man schuldiger als S. kaum sein kann. Weil die Kamikazeaussage des Angeklagten juristisch freilich noch nicht verwertbar ist, ist der Ausgang des Verfahrens trotzdem völlig offen: Es wird spannend zu sehen, was wichtige Zeugen wie Yüksel Koc und die schillernde E. in den nächsten acht Verhandlungstagen zu sagen haben und welche Beweise die Staatsanwaltschaft gesammelt hat. Sollte das Gericht den Angeklagten am Ende des Prozesses dann tatsächlich für schuldig befinden, so kann sich Yüksel Koc am Ende zumindest darüber freuen, dass der MIT ausgerechnet Mehmet Fatih S. auf ihn angesetzt hat: Mit einem besseren Spion wäre die Sache für den kurdischen Aktivisten vielleicht ganz anders ausgegangen.
Quelle: ntv.de