Referendum mit Nachspiel Deutschtürken wählen auf letzten Drücker
09.04.2017, 19:18 Uhr
Rund 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken leben in Deutschland.
(Foto: AP)
Nach einem zweiwöchigen Wahlmarathon schließen in Deutschland die Wahllokale - und schon jetzt ist klar: Das Referendum über die Verfassungsreform von Präsident Erdogan hat Spuren hinterlassen bei den Deutschtürken. Es könnte sogar juristische Folgen haben.
Ein letztes Mal wandte sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Samstag an seine Anhänger im Ausland. "Ich rufe [euch] von Istanbul aus zu", sagte er. "Unterschätzt es nicht! Geht ohne zu zögern an die Wahlurnen und stimmt ab!" Und tatsächlich bildeten sich vor den 13 Wahllokalen in der Bundesrepublik am Sonntag noch einmal teils lange Schlangen. Um 21 Uhr endet die zweiwöchige Abstimmungsphase - und schon jetzt zeichnet sich eine wesentlich höhere Wahlbeteiligung ab als vor anderthalb Jahren. Bei der Parlamentswahl im November 2015 machten rund 41 Prozent der in Deutschland lebenden Türken ihr Kreuz auf dem Wahlzettel. Die Mehrheit von ihnen (60 Prozent) stimmte für die Regierungspartei AKP - und damit für Erdogan. Dass das Ergebnis des Referendums ähnlich eindeutig ausfällt, ist zumindest unwahrscheinlich.
Türkische Oppositionspolitiker rechnen damit, dass sich diesmal mindestens die Hälfte der Deutschtürken am Referendum beteiligt. "Bei den Türken ist es in der Regel so, dass sie erst am letzten Tag wählen gehen", sagte Kenan Kolat vom Berliner CHP-Verein der "Berliner Zeitung". Die Hoffnung der Republikanischen Volkspartei (CHP) ist, dass sie mit der Kampagne gegen das Präsidialsystem jene Mehrheit der Deutschtürken mobilisieren konnte, die in der Vergangenheit kein großes Interesse an politischer Mitbestimmung in der Türkei hatte. Diese Hoffnung ist nicht ganz unbegründet: Denn selten löste eine türkische Wahl hierzulande eine derart breite Kontroverse aus.
Wochenlang war über ein generelles Wahlkampfverbot für türkische Politiker in Deutschland diskutiert worden - auch weil man fürchtete, dass innertürkische Konflikte die Deutschtürken entzweien könnten. Vor allem aber, weil die von Erdogan angestrebte Verfassungsreform alldem widerspricht, was in Deutschland unter einer Demokratie verstanden wird. Letztlich war es jedoch die Regierung in Ankara, die einen Rückzieher machte und alle weiteren Wahlkampfveranstaltungen absagte - nicht, ohne noch einmal die fehlende Meinungsfreiheit und die angeblichen "Nazi-Methoden" deutscher Behörden zu beklagen.
Ein fragwürdiger Wahlkampf

Mürvet Öztürk wurde von einer türkischen Zeitung als "Volksverräterin" verunglimpft.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Durch die Absage habe sich "die Lage entspannt", sagte die hessische Landtagsabgeordnete Mürvet Öztürk nun der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" (FAS). Sie hatte öffentlich für ein "Nein" zur Verfassungsreform geworben und war deshalb von einer regierungsnahen türkischen Tageszeitung massiv angefeindet worden. Der Hamburger Rechtsanwalt Mülayim Hüseyin bezweifelt jedoch, dass sich der Wahlkampf Erdogans zuletzt auf Verbalattacken aus der Ferne beschränkt hat. Dem Berliner Radiosender "105.5 Spreeradio" sagte Hüseyin, er habe Strafanzeige bei der Hamburger Staatsanwaltschaft und dem türkischen Generalkonsulat erstattet.
Der AKP wirft er vor, mit massiver Wahlwerbung gegen das Datenschutzrecht verstoßen zu haben. Im Vorfeld des Referendums seien massenhaft Briefe an türkische Staatsbürger in Deutschland verschickt worden, in denen für ein "Ja" zur Verfassungsreform geworben werde. Laut Hüseyin dürfte die Regierungspartei aber überhaupt nicht über die Adressdaten der Deutschtürken verfügen. "Die AKP kann diese Daten nur über den türkischen Staat erlangen", erklärte er dem Sender. "Und dieser konnte unsere Daten nur vom hiesigen Generalkonsulat erhalten." Die Namen und Adressen der türkischen Staatsbürger in Deutschland seien nur dort registriert. Eine Weitergabe verstoße aber gegen türkisches Recht.
57 Unregelmäßigkeiten erfasst
Wahlbeobachter von der oppositionellen CHP sehen zumindest mit Blick auf die Abstimmung selbst keinen Grund, Alarm zu schlagen. Zwar seien von den Wahlkommissionen insgesamt 57 Unregelmäßigkeiten protokolliert worden. "Im Großen und Ganzen" sei die Wahl aber "fair verlaufen", sagte Parteisprecher Kazim Kaya der "FAS". So habe es zum Beispiel Versuche gegeben, doppelt zu wählen. Vereinzelt hätten Wahlhelfer auch offen für ein "Ja" geworben, etwa im Generalkonsulat Frankfurt. Sobald die Wahllokale geschlossen sind, werden die Urnen nach Berlin gebracht - und von dort aus unter Aufsicht von Wahlbeobachtern in die Türkei geflogen. Dort wird erst am 16. April gewählt.
Für Präsident Erdogan und seine AK-Partei könnten die Stimmen der rund 1,4 Millionen wahlberechtigten Türken in Deutschland entscheidend sein. In der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gezici von Anfang April gaben zwar 53,3 Prozent der Türken an, für das Präsidialsystem stimmen zu wollen. Laut "Hürriyet Daily News" sollen die Leiter verschiedener Umfrageinstitute dem Regierungschef aber bestätigt haben, dass "trotz des massiven Einsatzes der Medien und der staatlichen Ressourcen" das Rennen weiter so eng sei, dass der Ausgang des Referendums kaum vorherzusehen sei.
Quelle: ntv.de, jug/rts/dpa