Viele Indizien, wenig Fakten Die Beweislage gegen Assad bleibt dünn
09.09.2013, 15:50 Uhr
Einige der Toten von Ghuta am 21. August.
(Foto: REUTERS)
US-Präsident Obama wird nicht müde, für einen Militärschlag in Syrien zu werben. Nachdem die Weltgemeinschaft der Entwicklung im syrischen Bürgerkrieg monatelang weitgehend untätig zugesehen hat, ist es nun ein mutmaßlicher Giftgaseinsatz, der in der Syrien-Frage die Wende bringt. Doch wie sicher ist es, dass Syriens Machthaber Assad der Urheber dieser Giftgasattacke ist?
Die Meldungen, die am 21. August aus Syrien kamen, klangen zunächst nicht anders als viele zuvor. Bei massiven Angriffen mit Kampfflugzeugen, Raketen und Artillerie seien im Umland von Damaskus 468 Menschen getötet worden. Lokalen Revolutionskomitees zufolge war vor allem der Bezirk Al-Ghuta Al-Scharkija betroffen, der als Hochburg des Widerstandes gegen Präsident Baschar al-Assad gilt, sowie Moadhamijat al-Scham. Doch was dann folgte, änderte die Lage im Syrien-Konflikt dramatisch.
Die Revolutionskomitees erhoben den Vorwurf, dass die Regierungstruppen bei ihren Angriffen auch Giftgas eingesetzt haben. Die Totenzahlen wurden deutlich nach oben korrigiert, von über Tausend Opfern ist schließlich die Rede. Für US-Präsident Barack Obama ist der Fall eindeutig: Den Giftgasangriff hat die Führung um Staatschef Baschar al-Assad zu verantworten. Obama will Assad deshalb mit einem "begrenzten" Militärschlag bestrafen, gewährt ihm aber zuvor noch ein letztes Ultimatum, um die Chemiewaffen zu übergeben. Auch hätte Obama für ein militärisches Vorgehen gern die Zustimmung des Kongresses. Doch die Beweise, dass Assad wirklich die rote Linie überschritten hat, sind dürftig.
Was geschah am 21. August?
Sie stützen sich vor allem auf US-Geheimdienste, die für ihren Bericht "mehrere nachrichtendienstliche Informationsflüsse" auswerteten. Satellitenbilder bestätigten demnach, dass in den frühen Morgenstunden des 21. Augusts mit Giftgas bestückte Raketen aus einem Gebiet abgefeuert wurden, das von der syrischen Armee kontrolliert wird. Agenten, elektronische Aufklärung und andere Quellen lieferten Hinweise, dass Assads Armee den Einsatz von Chemiewaffen vorbereitet habe. In den Tagen vor der Attacke seien Einheiten an einem Ort im Einsatz gewesen, an dem die syrischen Streitkräfte chemische Kampfstoffe mischten. Am 21. August hätten sich dann Regierungstruppen in der Nähe von Damaskus für einen bevorstehenden Chemiewaffenangriff gewappnet, unter anderem mit Gasmasken. Mindestens 1429 Menschen seien getötet worden, darunter mindestens 426 Kinder, heißt es in dem US-Geheimdienstbericht. Etwa 3600 Menschen seien mit auf Nervengas hindeutenden Symptomen in drei Krankenhäuser eingeliefert worden.
Dass es einen Angriff am 21. August gegeben hat, kann als sicher gelten. Das hat auch die syrische Führung eingeräumt, den Einsatz von Giftgas jedoch vehement bestritten. Videos zeigen eine Vielzahl von Toten, die genaue Zahl lässt sich daraus jedoch nicht zweifelsfrei ermitteln. Die hohe Zahl der Opfer kann aus Sicht von Militärexperten jedoch als ein Indiz für einen Giftgaseinsatz gewertet werden. Woran die Menschen starben, darüber lässt sich jedoch lediglich mutmaßen. Viele der Toten weisen keinerlei äußerliche Verletzungen auf. Das könnte drauf hindeuten, dass sie nicht in klassische Kampfhandlungen mit Einsatz von Schusswaffen verwickelt waren. Augenzeugen berichteten zudem, dass Menschen nach dem Angriff mit Erstickungsanfällen, Schaum vor dem Mund, Muskelkrämpfen, gereizten Augen und Hautirritationen in Krankenhäuser eingeliefert wurden. Die US-Geheimdienste werteten rund einhundert Videos aus, die nach der Attacke aufgenommen worden sein sollen. Die Aufnahmen zeigen den Angaben zufolge Opfer mit Symptomen eines Nervengasangriffs. Syrische Krankenhäuser und internationale Mediziner bestätigten demnach die Symptome. Auch auf Fotos von einigen Toten ist die Schaumbildung vor dem Mund noch zu sehen.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch betonte in einer Stellungnahme, dass es in der näheren Umgebung der betroffenen Vororte weder offensichtliche chemische noch industrielle Anlagen gebe, aus denen beispielsweise bei einem Unglücksfall giftige Substanzen entwichen sein könnten. Die USA fingen nach eigenen Angaben zudem eine nicht näher bezeichnete "Kommunikation" ab, in der ein ranghoher syrischer Vertreter den Einsatz von Chemiewaffen bestätigte. Der Vertreter habe sich besorgt gezeigt, dass UN-Inspektoren Beweise für die Attacke finden könnten. Den US-Geheimdiensten liegen demnach außerdem Informationen vor, dass die Chemiewaffeneinheiten am Nachmittag des 21. August angewiesen wurden, den Einsatz einzustellen.
Wem nutzt das?
Syriens Herrscher Baschar al-Assad soll internationalen Experten zufolge über hunderte Tonnen Giftgas verfügen. Sein Arsenal könnte aus diversen Chemiewaffen bestehen:
Sarin wurde 1938 von deutschen Chemikern der IG-Farben entwickelt. Es ist hochwirksam, schon kleinste Mengen wirken tödlich. Es kann über die Haut oder Atmung aufgenommen werden und dann zur vollständigen Lähmung führen. Da es weder riecht noch sichtbar ist, lassen sich Wasser und Nahrung damit leicht vergiften.
Das Nervengas VX ist eine farblose bis gelbliche Flüssigkeit, die über die Augen und die Atemwege in den Körper eindringt. Schon die geringsten Mengen führen zur Lähmung der Atemmuskulatur und zum Tod.
Senfgas wurde von einem Franzosen bereits im Jahr 1854 entwickelt, deutsche Truppen setzten es im Ersten Weltkrieg ein. Das Gas, das über die Haut eindringt, führt zu entstellenden Verletzungen und war lange Zeit eine der am meisten gefürchteten Waffen.
Diese Informationen passen mit früheren Erkenntnissen zusammen, dass die syrischen Streitkräfte über verschiedene chemische Kampfstoffe verfügen, darunter Saringas, Senfgas und das Nervengas VX. Die Wahrscheinlichkeit sei sehr hoch, dass Assads Truppen im Laufe der vergangenen zwölf Monate bereits "mehrfach" Chemiewaffen eingesetzt hätten, meinen die Geheimdienstleute. Die früheren Giftgasattacken hätten aber nicht das Ausmaß des Angriffs am 21. August gehabt. Mit dem Einsatz chemischer Kampfstoffe hätten die Regierungstruppen in besonders umkämpften Gebieten die Oberhand gewinnen wollen.
Allerdings ist es längst nicht so, dass Assads Truppen dabei sind, den Kampf um Syrien zu verlieren. Vielmehr äußerte der Präsident des Bundesnachrichtendienst, Gerhard Schindler, laut der "Bild am Sonntag" erst kürzlich vor dem Verteidigungsausschuss des Bundestags die Einschätzung, dass sich Assad auch unabhängig von einem Militärschlag "noch Jahre" halten könne. Zuletzt hatten die Regierungstruppen Stellungen der Rebellen zurückerobert. Noch immer kann Assad auf die loyale Unterstützung der Armee setzen, alle Befehlshierarchien sind nach Einschätzung von Experten intakt.
Unklar ist, wie die Tatsache zu bewerten ist, dass sich am 21. August bereits Chemiewaffenexperten der UNO in Syrien aufhielten, die damit die Möglichkeit gehabt hätten, schnell an einen vermuteten Giftgaseinsatzort zu gelangen. Tatsächlich haben UN-Inspekteure am 26. August zwei Krankenhäuser mit Zeugen des mutmaßlichen Chemiewaffenangriffs besucht und Proben genommen. Allerdings hätten die fünf Tage Verzögerung ausgereicht, um Spuren zu verwischen und Beweise zu vernichten. Dass der UN-Konvoi auf dem Weg nach Ghuta beschossen wurde, lässt zumindest den Schluss zu, dass es Kräfte gibt, denen die Aufklärung des Angriffs sehr ungelegen kommt.
Befehl von Assad?
Syrische Divisions- und Brigadekommandeure sollen seit rund vier Monaten immer wieder den Einsatz von Chemiewaffen gefordert haben. Dies sollen Funkgespräche belegen, die das Flottendienstboot "Oker" abgefangen hat, heißt es aus deutschen Sicherheitskreisen. Das Spionageschiff der deutschen Marine kreuze vor der Küste Syriens. Den Erkenntnissen der Abhörspezialisten zufolge seien die von den Kommandeuren verlangten Giftgasangriffe aber stets abgelehnt und der Einsatz vom 21. August wahrscheinlich nicht von Assad persönlich genehmigt worden. Andererseits fing der Bundesnachrichtendienst dem "Spiegel" zufolge ein Telefongespräch eines Hisbollah-Führers mit der iranischen Botschaft ab, in dem dieser berichtet, Assad habe die Nerven verloren und daher den Giftgaseinsatz befohlen. Die USA lasten den Angriff nicht zuletzt deshalb Assad an, weil er als "endgültiger Entscheider" über das Chemiewaffenprogramm seiner Armee wache.
Die US-Geheimdienste gehen auch deshalb mit "hoher Gewissheit" davon aus, dass die syrische Armee hinter der Attacke steht, weil eine Schuld der Rebellen "höchst unwahrscheinlich" sei. Die Kämpfer der Oppositionsbewegung hätten nicht die militärischen Fähigkeiten, größere Raketenangriffe mit chemischen Kampfstoffen auszuführen. Außerdem seien sie nicht in der Lage, die Vielzahl an Belegen für eine Giftgasattacke zu fälschen. So argumentiert auch Sadiqu al-Mousllie, in Deutschland lebender Vertreter des Syrischen Nationalrats. Er habe keine Informationen, dass "irgendeine bewaffnete Oppositionsgruppe dieses Giftgas besitzt", sagte er im Deutschlandfunk. Auch mangele es an der Logistik, um diese Stoffe "zu verarbeiten und dann auch zu verschießen".
Es kursiert jedoch auch die Geschichte der früheren AP-Reporterin Dale Gavlak und eines jordanischen Journalisten, dass Aufständische der al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front durch den saudiarabischen Geheimdienstchef Prinz Bandar bin Sultan in den Besitz von Chemiewaffen gelangt seien. Diese hätten sie dann in einem der Tunnel unter Ghuta gelagert. Durch falschen Umgang seien diese Chemiewaffen versehentlich explodiert.
Wahrscheinlich, aber nicht unwiderlegbar bewiesen
Der Stabschef im Weißen Haus, Denis McDonough, räumte freimütig ein, dass die USA keine hundertprozentig sicheren Beweise für eine Verbindung des syrischen Regimes zur mutmaßlichen Giftgasattacke vom 21. August haben. Unabhängig von geheimdienstlichen Informationen sage vor allem der gesunde Menschenverstand, "dass das Regime das ausgeführt hat", so McDonough bei CNN. Als die CNN-Journalistin nachhakte, antwortete der Stabschef: "Haben wir ein Bild oder einen unwiderlegbaren Beweis, jenseits vernünftigen Zweifels? Dies ist kein Gericht. Und so läuft Geheimdienstarbeit nicht."
Hoffnung setzen viele in die Analysen der Proben, die die UN-Inspekteure in Syrien gesammelt haben. Der britische Premierminister David Cameron sagte dazu beim G20-Gipfel in St. Petersburg: "Wir haben gerade einige in Damaskus gesammelte Proben im Labor Porton Down untersucht, die weitere Hinweise auf den Einsatz chemischer Waffen in dem Vorort von Damaskus zeigen." Boden- und Textil-Proben aus dem Vorort von Damaskus, in dem Chemiewaffen eingesetzt wurden, seien positiv auf das Nervengas Sarin getestet worden, hieß es dazu aus britischen Regierungskreisen. Bei der Rückkehr der Chemiewaffenexperten hatte es geheißen, die Analyse der gesammelten Proben werde Wochen dauern. Allerdings ist es Aufgabe der UN-Inspektoren, den Giftgaseinsatz nachzuweisen. Wer ihn anordnete, wäre auch diesem Fall noch immer nicht bewiesen.
Quelle: ntv.de