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Drei Milliarden Euro blockiert? Bei der Ukrainehilfe dreht sich Scholz um 180 Grad

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Bundeskanzler Scholz besuchte im Dezember eine Drohnenfabrik in der Ukraine.

Bundeskanzler Scholz besuchte im Dezember eine Drohnenfabrik in der Ukraine.

(Foto: SvenSimon-ThePresidentialOfficeU)

Kanzler Scholz ließ im November die Ampel auch deshalb platzen, weil mit Lindner keine Aufweichung der Schuldenbremse für mehr Ukrainehilfe zu machen war. Zwei Monate später lehnt Scholz diese Ukrainehilfe selbst ab, mangels Bedarf, so heißt es. Kritik kommt selbst aus der SPD.

6. November 2024 - in Deutschland verdaut man gerade noch die Nachricht vom Wahlsieg Donald Trumps in den USA, da folgt die nächste Breaking News direkt aus Berlin: Die Ampelkoalition ist am Ende, Deutschland steht ohne handlungsfähige Regierung da.

Als einen von vier Gründen für die Entlassung von Christian Lindner nennt Olaf Scholz an jenem Abend die Weigerung seines Finanzministers, die Schuldenbremse zu lockern zugunsten von weiterer milliardenschwerer Hilfe für die Ukraine. "Wir erhöhen unsere Unterstützung für die Ukraine, die einem schweren Winter entgegengeht", sagt der Kanzler vor laufenden Kameras. "Nach der Wahl in den USA sendet das ein ganz wichtiges Signal: Auf uns ist Verlass."

Es fehlen Waffen und Munition

Das klingt eindeutig. Und so gehen - dem Statement von Scholz folgend - das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium in die Spur, um die zusätzlichen Hilfen auf den Weg zu bringen. Die Ukraine steht unter russischem Dauerbeschuss. Ihr fehlt es vor allem an schützender Luftverteidigung, an Waffen und Munition. Die Russen haben schon früh im Jahr 2024 begonnen, gezielt auf kritische Infrastruktur zu feuern.

Patriot und Iris-T, so heißen die Flugabwehrsysteme, die das, was die Ukraine gerade im Winter so dringend zum Überleben braucht, unter ihren Schutz stellen könnten. Nur, beide Systeme sind rar und teuer. Sechs Patriotsysteme stehen Kiew inzwischen zur Verfügung, drei davon hat Deutschland geschickt. Dazu zwölfmal Iris-T, entwickelt vom deutschen Rüstungshersteller Diehl Defence – sechs Abschusssysteme für kurze Reichweiten und weitere sechs für die mittlere Strecke.

Auf dem riesigen Staatsgebiet der Ukraine reicht das hinten und vorn nicht aus, vor allem dann nicht, wenn eigentlich auch die Kampftruppen an der Front Schutz vor den massiven russischen Luftangriffen bräuchten. Verteidigungsminister Boris Pistorius und Außenministerin Annalena Baerbock wiesen darum ihre Häuser an, den Kauf weiterer Patriot- und Iris-T Systeme sowie der passenden Munition vorzubereiten. Bis das Kanzleramt vergangene Woche in der Ukraine plötzlich keinen Bedarf mehr ausmachen konnte an zusätzlicher Luftverteidigung. "Der Spiegel" berichtete, Scholz habe beiden Ministerien informell signalisieren lassen, dass er die Idee für das zusätzliche Milliardenbudget nicht mittrage.

Während sich das Haus von SPD-Mann Pistorius mit Kommentaren zurückhält, machen andere aus ihrem Erstaunen über diesen Schritt keinen Hehl. Speziell mit Blick auf die markigen Kanzlerworte vom 6. November, als unter anderem die so dringende zusätzliche Ukrainehilfe einer von vier Sargnägeln war, mit denen Olaf Scholz die Ampelkoalition beerdigte.

"Es war damals unredlich, die Ukraine für ein solches Manöver zu missbrauchen", sagt Marcus Faber, der als Liberaler dem Verteidigungsausschuss vorsitzt, ntv.de. "Und heute wird sehr offensichtlich, dass es damals schon unredlich war und dass es dem Kanzler nie um die Ukraine ging, sondern nur um einen Vorwand, um die Freien Demokraten aus der Koalition zu entfernen."

Plötzlich hat Kiew keinen Bedarf mehr?

Die FDP-Interpretation machen sich die Grünen nicht zu eigen, sind aber gleichwohl bass erstaunt über die neue Sichtweise im Kanzleramt. "Olaf Scholz hat das Ende der Koalition mit vier Ursachen begründet, darunter die Unterstützung der Ukraine", fasst Verteidigungsexpertin Agnieszka Brugger zusammen. "Es ist mir unverständlich, weshalb er zwei Monate und einen dramatischen Winter in der Ukraine später plötzlich keinen Bedarf und keinen Spielraum mehr sieht."

Zumal Brugger und ihr Parteifreund Anton Hofreiter den Bedarf vor wenigen Tagen selbst miterlebten. Nicht nur ließen sie sich vom ukrainischen Stromversorger Ukrenergo bei einem Ukraine-Besuch Anfang Januar die prekäre Situation beschreiben, sondern gerieten gleich dreimal selbst in Luftalarm. ´

Während die Hauptstadt Kiew durch Abfangsysteme vergleichsweise gut geschützt ist, wird die Situation außerhalb der Städte sehr schnell sehr prekär. Auch durch effektive russische Aufklärung. "Die russischen Streitkräfte wissen inzwischen sehr genau, wie viele Abfangraketen die Ukraine zur Verfügung hat", sagt Brugger. "Sie zielen dann mit zehn Raketen hintereinander auf dasselbe Umspannwerk, weil sie wissen, dass die Ukraine wahrscheinlich nur sechs bis sieben der Angriffe abwehren kann." Nicht, weil die Abwehrwaffe überfordert wäre, sondern weil schlicht keine Munition mehr übrig ist.

Das Paket, das Baerbocks und Pistorius' Häuser vorbereitet haben, sieht darum unter anderem noch einmal weitere Iris-T-Systeme vor, sowie Munition für die deutsche Fliegerabwehrwaffe und das amerikanische Patriotsystem. Der Moment scheint passend zu sein, denn die Rüstungsbetriebe signalisieren Produktionskapazitäten. Das ist nicht selbstverständlich, denn Waffenhersteller dürfen nicht ohne Auftrag, quasi "auf Halde" vorproduzieren. Sie gehen also immer erst dann in die Spur, wenn ein konkreter Vertrag unterzeichnet ist. Kommt ein Schwung ausländischer Käufer zuvor, dann können die Anlagen schnell und für längere Zeit belegt sein.

Wie etwa im vergangenen Jahr, als die Bundesregierung zusätzliche drei Milliarden kaum losgeworden wäre, weil die Produktionskapazitäten der Industrie in jener Phase nicht mehr hergaben. "Für das Jahr 2025 sieht es anders aus", sagt Brugger. "Jetzt wären mehr Bestellungen möglich, wenn weitere Mittel zur Verfügung stehen würden, weil in den vergangenen Jahren die Produktionskapazitäten massiv erweitert worden sind." Nun müsste der Bundeskanzler die drei Milliarden, die ihm im November noch so wichtig waren, nur noch freigeben.

Die Union sieht bei Scholz' Veto ein hohes Risiko

Bedarf ist in hohem Maß vorhanden, Kapazitäten sind erklärtermaßen vorhanden – da wird es mit dem Argumentieren für Olaf Scholz langsam schwierig. Man wolle die künftige Bundesregierung nicht vor vollendete Tatsachen stellen, heißt es laut "Spiegel"-Bericht aus dem Kanzleramt. Allerdings äußert sich die Union, als eine Partei, die in der künftigen Bundesregierung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Hauptrolle spielen wird, eindeutig positiv mit Blick auf die drei Milliarden zusätzlicher Ukrainehilfe.

"Wir erwarten vom Bundeskanzler ein sehr klares Bekenntnis zur Erhöhung der Unterstützung der Ukraine und zur Unterstützung seines Kabinetts, nämlich von Außenministerin Baerbock und von Verteidigungsminister Pistorius", sagt CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter ntv.de "Beide haben unsere volle Unterstützung, wenn sie die Ukrainehilfe finanziell und auch materiell intensivieren." Das Veto des Kanzlers mit Blick auf die kommende Regierung birgt für Kiesewetter ein hohes Risiko. "Bis die nächste Bundesregierung steht, gehen Monate ins Land. In der Zeit versucht Russland, in der Ukraine Fakten zu schaffen."

Wenn mit dem Statement der Union auch das letzte Kanzleramts-Argument den Bach runtergeht, wundert es kaum, dass sich inzwischen auch innerhalb der SPD Widerstand gegen das Scholzsche Drei-Milliarden-Veto regt. Denn wenn kein sinnvolles Argument mehr übrigbleibt, kommt ein Verdacht auf. Die Kehrtwende bei der Ukraine-Unterstützung könnte der Wahlkampftaktik geschuldet sein. Da besonders in den ostdeutschen Bundesländern die Zustimmung für Militärhilfe an Kiew bröckelt, könnte Scholz sich nun querstellen, um nicht in die Kritik derjenigen zu geraten, die der Ukraine am liebsten den Hahn zudrehen würden.

Dafür bekommt er nun Druck aus den eigenen Reihen: "Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine und der Kanzler hat immer erklärt, dass wir die Ukraine so lange wie nötig unterstützen werden. Das Wort gilt", sagt SPD-Haushalts- und Verteidigungspolitiker Andreas Schwarz ntv.de. "Dieser Krieg braucht sofortige Entscheidungen und wartet nicht auf eine deutsche Wahl."

Quelle: ntv.de

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