Politik

Nach der Wahl in der Türkei "Erdoğans AKP steht vor der Zerreißprobe"

Erdoğan hat massiv in den Wahlkampf eingegriffen, obwohl die Verfassung dem Präsidenten das nicht gestattet.

Erdoğan hat massiv in den Wahlkampf eingegriffen, obwohl die Verfassung dem Präsidenten das nicht gestattet.

(Foto: dpa)

Der Ausgang der Wahlen in der Türkei ist als Abmahnung zu verstehen, sagt der Türkei-Experte Wolfgang Gieler. "Die Wähler wollen die von Erdoğan angestrebte Alleinherrschaft nicht." Erdoğans AKP sieht Gieler in einer kritischen Phase.

n-tv.de: Die Partei des türkischen Präsidenten Erdoğan hat die absolute Mehrheit verfehlt. Ist das der Anfang vom Ende einer Ära?

Wolfgang Gieler ist Lehrbeauftragter in der Fachgruppe Politikwissenschaft der Universität Kassel. Seit 2001 arbeitet er an verschiedenen Universität in Istanbul als Professor für Politikwissenschaft.

Wolfgang Gieler ist Lehrbeauftragter in der Fachgruppe Politikwissenschaft der Universität Kassel. Seit 2001 arbeitet er an verschiedenen Universität in Istanbul als Professor für Politikwissenschaft.

(Foto: privat)

Wolfgang Gieler: Zumindest ist das Wahlergebnis ein Signal der türkischen Wähler, dass sie kein Präsidialsystem der Prägung Erdoğans haben wollen. Der Präsident hat ja massiv in den Wahlkampf eingegriffen, obwohl die Verfassung das nicht gestattet. Genutzt hat es nichts - zum ersten Mal seit 2002 kann die AKP nicht alleine regieren.

Was bedeutet es für die türkische Politik, dass die kurdische HDP die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hat?

Das ist das zweite Signal dieser Wahl: Die türkische Wählerschaft legt Wert darauf, dass die kurdische Thematik auf politisch-parlamentarischem Weg gelöst wird, nicht auf der Straße.

Ist die HDP überhaupt eine klassische Kurdenpartei?

Nein. Die HDP ist sicherlich sehr stark kurdisch geprägt - sowohl was ihre Repräsentanten betrifft als auch bei Mitgliedern und Wählern. Besonders erfolgreich ist sie in den kurdischen Gebieten. Sie ist aber keine Partei, die nur Politik für Kurden machen will. Sie ist Teil des linken Spektrums, gehört zur Anti-Erdoğan-Szene und hat viele großstädtische Wähler, den Toleranz und Minderheitenrechte wichtig sind.

Bei der Parlamentswahl 2011 hatte die AKP noch knapp 50 Prozent geholt. Mittlerweile ist Erdoğan Präsident. Ist das Wahlergebnis auch ein Misstrauensvotum gegen ihn?

Zumindest gegen seinen Anspruch auf Alleinherrschaft. Der Wahlausgang jetzt ist als Abmahnung zu verstehen: Die Wähler wollen die von Erdoğan angestrebte Alleinherrschaft nicht. Er wollte sich aufbauen als der neue Atatürk, vor allem im Rahmen des 100-jährigen Bestehens der Türkischen Republik im Jahr 2023. Im Ausland wurde der Protest gegen diesen Anspruch erstmals bei den Gezi-Park-Demonstrationen vor zwei Jahren wahrgenommen. Innerhalb der Türkei ist diese Stimmung im akademischen Bereich schon lange davor zu spüren gewesen, mittlerweile hat sie breitere gesellschaftliche Schichten erreicht. Im ländlichen Raum profitiert die AKP aber immer noch von den wirtschaftlichen Erfolgen und den sozialpolitischen Errungenschaften, die Erdoğan durchgesetzt hat, etwa von der Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung.

Mit welcher Partei könnte die AKP nun eine Koalition bilden?

Der formale Rahmen ist klar: Der Staatspräsident, also Tayyip Erdoğan selbst, muss innerhalb der nächsten 45 Tage eine Partei mit der Regierungsbildung beauftragen. Wenn das nicht klappt, gibt es Neuwahlen. Rein rechnerisch kann die AKP drei Bündnisse eingehen: mit der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, mit der rechtsextremen MHP und mit der HDP. Am naheliegendsten wäre ein Bündnis mit der MHP, sie sind gewissermaßen der natürliche Verbündete der AKP. Allerdings würden sie versuchen durchzusetzen, die Minderheitenrechte für die Kurden wieder abzuschaffen, etwa den Schulunterricht in kurdischer Sprache. Das wäre eine schwere Belastung für den Friedensprozess. Allerdings hat die MHP vor mehr als einem Jahrzehnt als Teil einer Koalitionsregierung auch der Abschaffung der Todesstrafe zugestimmt, obwohl sie im Wahlkampf noch gesagt hatte, dass sie dies nicht tun würde - und obwohl die Entscheidung damals dem inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan das Leben gerettet hat. Es könnte sein, dass sich die MHP wieder ähnlich flexibel zeigt.

Die AKP hat noch nie koalieren müssen. Glauben Sie, sie schafft es, die Macht zu teilen?

Das könnte kritisch werden. Bereits am Sonntag sagten AKP-Politiker, dass sie nicht bereit seien, die Macht abzugeben, sondern eher auf Neuwahlen setzen wollen. Für die AKP wäre das eine Zerreißprobe. Sie hat intern festgelegt, dass ein Abgeordneter nicht länger als drei Legislaturperioden im Parlament sitzen darf. Damit können altgediente Politiker aussortiert und durch Erdoğan-Anhänger ersetzt werden. Das könnte dazu führen, dass Leute wie der AKP-Gründer Bülent Arınç und der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül, die eher liberal-konservativ geprägt sind, eine Abspaltung in Erwägung ziehen.

Zeigt die Wahl, dass die Türkei eine funktionierende Demokratie ist?

Schlagwortmäßig würde ich die Türkei als autoritäre Demokratie bezeichnen. Die Wahl lief nach Einschätzung der Wahlbeobachter von der OSZE aber bis auf wenige Ausnahme korrekt ab. Vor allem die hohe Wahlbeteiligung von rund 85 Prozent zeigt, dass die Wähler durchaus ein demokratisches Bewusstsein haben.

Mit Wolfgang Gieler sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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