Kindergrundsicherung kommt Familien gewinnen, Lindner ebenfalls


Heil, Lindner und Paus stellten die Ergebnisse ihrer Einigung vor - der FDP-Chef hatte viele seiner Vorstellungen durchgesetzt.
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Nach monatelangem Streit einigt sich die Ampelkoalition auf die Kindergrundsicherung. Sozialleistungen für Kinder sollen künftig aus einer Hand kommen und so einfacher zugänglich werden - ein Gewinn für viele Familien. Im Ampelstreit gibt es ebenfalls einen klaren Sieger.
Kurz vor der Kabinettsklausur in Meseberg räumt die Ampel ihr größtes aktuelles Streitthema ab: Die Kindergrundsicherung kann kommen, nachdem sich Finanzminister Christian Lindner und Familienministerin Lisa Paus in der vergangenen Nacht geeinigt haben. "Es haben die Kinder gewonnen", resümierte Arbeitsminister Hubertus Heil am Vormittag in der Bundespressekonferenz, als er gemeinsam mit dem FDP-Chef und der Grünen-Politikerin den Gesetzentwurf vorstellte.
Ob das so stimmt, darüber haben Regierung und Opposition unterschiedliche Meinungen. Doch innerhalb der Ampel gibt es durchaus einen Gewinner: Finanzminister Lindner. Darauf deuten allein schon die genannten Zahlen hin. 2,4 Milliarden Euro sollen nun für die "große Sozialreform" ausgegeben werden, die im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Diese Summe liegt nahe an den 2 Milliarden, die Lindner für den nächsten Haushalt eingeplant hatte - und die die Grünen für zu gering befunden hatten. Paus hatte 7 Milliarden, anfangs sogar 12 Milliarden Euro gefordert. Sie willigte nun also in deutlich weniger ein. Am Vormittag wies sie außerdem darauf hin, dass ja bereits das Kindergeld erhöht wurde - was 7 Milliarden Euro gekostet hatte.
Genauso hatte Lindner stets argumentiert. Der FDP-Chef hatte zudem immer darauf gedrungen, dass die Mehrausgaben nur dafür genutzt werden, die Antragsstellung zu vereinfachen und die Zahlungen zusammenzuführen - aber nicht, um Leistungen generell zu erhöhen. Das wiederum wollten aber die Grünen. Das geschieht jedoch nun nur indirekt: Die Leistungen werden künftig an das soziokulturelle Existenzminimum gekoppelt, also das Einkommen, das mindestens notwendig ist, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das soll für Familien großzügiger berechnet werden, wodurch die Zahlungen steigen würden. Unterm Strich entstehen so voraussichtlich zwar wachsende Zahlungen - aber eben nicht in Form eines neuen Zuschlags für Bedürftige.
Lindner lässt Bombe platzen
Doch nicht nur bei der Kindergrundsicherung, auch beim sogenannten Wachstumschancengesetz, das die Wirtschaft ankurbeln soll, kann Lindner einen Erfolg für sich verbuchen. Obwohl beide Vorhaben inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, landeten sie vor zwei Wochen in einer Art Schicksalsgemeinschaft. Dafür hatte Paus gesorgt: In der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause verweigerte sie dem Wachstumschancengesetz ihre Zustimmung und forderte stattdessen mehr Geld für die Grundsicherung - wobei das Wachstumschancengesetz ein Prestigeprojekt Lindners ist. Damit eskalierte der Streit um die Kindergrundsicherung und der Haussegen der Ampel hing gleich nach der Rückkehr aus dem Urlaub wieder schief.
Kanzler Olaf Scholz hatte daraufhin die Abstimmung über das Wachstumschancengesetz auf die Kabinettsklausur im brandenburgischen Meseberg Ende August verschoben. Das kam einer Frist für die Kindergrundsicherung gleich. Denn es bestand die Gefahr, dass es ohne eine Einigung in dieser Frage auch keine Abstimmung über Lindners Wachstumschancengesetz gegeben hätte - falls die Grünen sich wieder quer gestellt hätten. So tickte also die Uhr, denn das Kabinett trifft sich an diesem Dienstag und Mittwoch auf dem brandenburgischen Schloss. Nach der Einigung in der Kindergrundsicherung sagte Paus am Vormittag, sie habe beim Wachstumschancengesetz "keine Einwände" mehr.
Doch Lindner überraschte die Hauptstadtpresse überdies mit der Ankündigung, sein Wachstumschancengesetz sei noch einmal "verbessert" worden, weshalb es sich "noch positiver" auf den Mittelstand auswirke. Das war eine kleine Bombe, die der FDP-Chef platzen ließ. Dazu habe die Verzögerung oder wie Lindner es ausdrückte: die "Retardierung" der Abstimmung des Gesetzes vor zwei Wochen Gelegenheit gegeben. Lindner hat also nicht nur die Forderungen nach höheren Leistungen in der Kindergrundsicherung weitgehend abgewehrt, sondern auch noch sein eigenes Prestigeprojekt ausweiten können. Was das konkret in Zahlen bedeutet, wollte er noch nicht erläutern.
Paus zeigt sich zufrieden
Der FDP-Chef sagte zwar am Vormittag: "Nein, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Kindergrundsicherung und Wachstumschancengesetz." Dass aber allein die Verschiebung der Abstimmung die "Verbesserung" des Wachstumschancengesetzes ermöglicht haben soll, ist wenig glaubwürdig. Wahrscheinlicher ist, dass Lindner die Gelegenheit nutzte, bei seinem Gesetz nachzuverhandeln und mehr herauszuholen. Dabei klang er besonders großzügig, als er hervorhob, dass er die Gespräche mit Paus nicht anders angegangen sei, nachdem diese das Wachstumschancengesetz blockiert hatte. Lindner sagte zudem, die Kindergrundsicherung sei die "letzte große Sozialreform", die sich angesichts der Haushaltslage realisieren lasse. Das hatte etwas von einer Mahnung in Richtung der Koalitionspartner.
Paus zeigte sich trotz allem betont zufrieden mit dem Ergebnis. Das harte Ringen habe sich gelohnt, immerhin habe man jetzt einen Gesetzentwurf, der in die Ressortabstimmung gehe. Sie hob außerdem hervor, dass kein Kind schlechter gestellt werde als zuvor und dass in einzelnen Fällen, etwa bei Alleinerziehenden, die Leistungen verbessert würden. Die 2,4 Milliarden Euro sind auch nur so etwas wie eine Anschubfinanzierung. Die Regierung rechnet damit und hofft darauf, dass durch die Vereinfachung der Antragstellung mehr Menschen ihre Ansprüche geltend machen. Denn bislang lassen viele aus Unwissenheit oder Überforderung Geld liegen, das ihnen zustünde. So könnten die Ausgaben für die Grundsicherung noch um mehrere Milliarden Euro steigen. Paus räumte aber ein: "Um Kinderarmut abzuschaffen, braucht es einen größeren Impuls."
Nun steht zumindest dieser Verhandlungsbrocken einer harmonischen Kabinettsklausur in Meseberg nicht mehr im Wege. Wie bei den vergangenen drei Treffen in dem idyllischen Schloss dürfte es dem Kanzler und seinen Ministern gelingen, Bilder der Einigkeit ins Land zu senden. Bis sie dann wieder in der Berliner Realität aufschlagen. Denn auch ohne Kindergrundsicherung gibt es noch Dinge zu klären: zum Beispiel die Frage, ob der Staat für große Unternehmen den Strompreis heruntersubventionieren sollte. Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen ist dafür - Lindner dagegen.
Quelle: ntv.de