Politik

Polens Justiz-Drama "Gravierende Folgen für die EU"

Die treibende Kraft hinter der Justizreform: Jaroslaw Kaczynski, Parteichef der regierenden nationalkonservativen PiS-Partei.

Die treibende Kraft hinter der Justizreform: Jaroslaw Kaczynski, Parteichef der regierenden nationalkonservativen PiS-Partei.

(Foto: AP)

Die Opposition schäumt, die EU sieht die Rechtsstaatlichkeit in Polen bedroht. Dennoch beschneidet Warschau weiter die Rechte der unabhängigen Justiz - was auch die EU angeht, wie Europarechtler Volker Boehme-Neßler von der Universität Oldenburg im Interview mit n-tv.de sagt. Doch deren Waffen sind stumpf.

n-tv.de: Polens Regierung baut seit einiger Zeit das Justizsystem um. Gerade hat das Parlament ein umstrittenes Gesetz zur Neuordnung des Obersten Gerichtshofs verabschiedet. Die Oppositionspartei PO spricht von einem "schwarzen Tag in der Geschichte Polens". Hat sie Recht?

Volker Boehme-Neßler: Das Problem ist, dass per Gesetz nun die obersten Richter entlassen werden sollen. Es passt nicht zum Rechtsstaat, dass je nach politischer Mehrheit oberste Richter entlassen werden. Das ist ein gravierender Eingriff in die Unabhängigkeit der Gerichte. In Deutschland kann daher ein Bundesverfassungsrichter nicht einfach abberufen werden. Indem die polnische Regierung dann neue Richter ernennt, die ihr politisch nahestehen, erhofft sie wohl, sich abzusichern und von juristischer Seite kein Störfeuer bei umstrittenen Parlamentsentscheidungen oder Neuwahlen zu bekommen.

EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans nennt die Gesetzespläne eine "systematische Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in Polen". Ist die Lage so dramatisch?

Der Punkt ist: Der Rechtsstaat wird nicht mit einem Federstrich abgeschafft. Allerdings kann er auch durch ganz viele kleine Regelungen demontiert werden. Es ist wie mit einem Puzzle: Man fängt mit kleinen Teilen an, und am Ende ergibt das ganze Puzzle plötzlich das Ende des Rechtsstaats. Wenn man sich die Tendenz anschaut – immerhin ist wegen anderer Gesetze schon seit 2015 ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen anhängig – sieht man: Jedes Jahr entfernt sich Warschau ein kleines Stück mehr vom Rechtsstaat.

Wo führt das hin?

Kern der rechtsstaatlichen Idee ist es, dass es neben Parlament und Regierung unabhängige Gerichte gibt, die die beiden anderen Staatsgewalten kontrollieren. Wenn die Gerichte aber von der Politik abhängig sind, dann nicken die Richter alles ab, was die Regierung macht. Sie kommen ihrer Kontrollfunktion nicht mehr nach. Das geht an die Wurzeln unseres westlichen Verfassungsverständnisses.

Was bedeuten die Entwicklungen der Justiz in Polen für die EU?

Sie haben gravierende Folgen. Im EU-Vertrag steht ganz am Anfang: Alle europäischen Staaten und Europa als Union haben gemeinsame Werte. Zu diesen Werten gehören etwa Grundrechte, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Das heißt: Wenn Polen seine Rechtsstaatlichkeit abschafft, entfernt es sich vom europäischen Konsens über die Grundwerte. Das ist keine Kleinigkeit.

Was heißt das konkret? Kann die EU dann beispielsweise noch Verbrecher nach Polen ausliefern?

Letztlich nicht. Bislang gehen Deutschland und die anderen europäischen Staaten davon aus, dass es in ganz Europa eine rechtsstaatliche Justiz gibt: Jeder bekommt ein unabhängiges Verfahren, einen unabhängigen, unparteiischen Richter. Wenn alle Justizbehörden dasselbe Rechtsstaatsniveau haben, dann kann man auch ausliefern. Wenn sich ein Staat von diesen rechtsstaatlichen Anforderungen aber entfernt, bekommen die anderen europäischen Länder ein Riesenproblem. Sie dürfen nämlich grundsätzlich nicht Menschen an Staaten ausliefern, die grundrechtliche und rechtsstaatliche Minimalstandards nicht erfüllen.

Die EU drohte am Mittwoch mit Sanktionen. Ist das nicht kontraproduktiv, weil sich viele Polen dann womöglich eher um die Regierung scharen?

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Oldenburg.

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Oldenburg.

Die Kaczynski-Regierung argumentiert tatsächlich mit dem Argument der Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Und wenn eine Regierung das sagt, fängt die Bevölkerung sofort an, sich mit ihr solidarisch zu zeigen und zusammenzuhalten. Das ist ein psychologisches Phänomen. Das zweite Problem ist: Es gibt juristische Instrumente, die zunächst sehr wirksam klingen. Die EU kann das Rechtsstaatsverfahren oder ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, Polen könnte verurteilt und dem Land ein Zwangsgeld auferlegt werden. Brüssel könnte nach einem rechtlichen Verfahren auch die Mitgliedsrechte von Polen suspendieren. Das würde zum Beispiel heißen, dass die polnischen Vertreter in den Ministerräten nicht mehr abstimmen dürften, solange Polen weiterhin die europäischen Grundwerte missachtet. Allerdings kann die EU das im politischen Alltag wohl nicht durchsetzen.

Woran liegt das?

Bei der Suspendierung von Stimmrechten muss der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass Polen gegen die Grundlagen der EU verstößt. Einstimmigkeit wird die EU in diesem Fall aber nicht erreichen, Ungarn wird kaum mit der Verurteilung von Polen einverstanden sein. Wenn der Europäische Gerichtshof ein Zwangsgeld festsetzt, Polen aber nicht zahlt, dann kann man nichts machen. Es gibt keinen Gerichtsvollzieher, der das durchsetzen würde. Mit anderen Worten: Die juristischen Instrumente funktionieren nur, solange sich alle einig sind und sich an das europäische Recht halten wollen. In dem Augenblick, in dem sich ein Staat bewusst verweigert, ist das europäische Recht am Ende.

Einen anderen Weg deutete EU-Justizkommissarin Vera Jourova an. Sie drohte mit dem Entzug von EU-Fördergeldern. Ist das eine wirksame Waffe?

Der finanzpolitische Hebel schmerzt Polen sicher mehr: Es gibt viele unterschiedliche Fördertöpfe, aus denen Polen enorme Summen bezieht. Und wenn die EU Gelder streicht, ist auch keine Einstimmigkeit nötig. Ich hoffe, dass im Hintergrund nun Gespräche laufen, in denen man den Polen sagt: "Wenn Ihr nicht mehr richtig mitspielt, dann gibt es auch weniger Geld." Europäische Union - das heißt Rechte und Pflichten. Es geht nicht das eine ohne das andere.

Mit Volker Boehme-Neßler sprach Gudula Hörr

Quelle: ntv.de

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