Schmerzhaftes Ja zum Atomausstieg Grüne ringen schwer mit sich
25.06.2011, 19:28 Uhr
Zwar nicht alles gut, aber Ende gut: Der Parteitag stimmt dem Vorstand zu.
(Foto: dapd)
Die Grünen machen sich ihre Haltung zum schwarz-gelben Atomausstieg nicht leicht. In einem fast sechsstündigen Rededuell zwischen Gegnern und Befürwortern geht es um nicht weniger als die Seele der Partei. Am Ende setzen sich die Pragmatiker gegen grünes Wunschdenken durch.
Wie gespalten die grüne Seele ist, wird schon vor der Messehalle in Berlin sichtbar: Ein paar Dutzend Atomkraftgegner haben sich mit ihren Fahnen versammelt und fordern die Delegierten des Sonderparteitags zum Bekenntnis auf. Wie beim Hammelsprung im Bundestag müssen sie sich für den Gang durch ein Tor entscheiden: Sind sie für oder gegen den schwarz-gelben Atomausstieg? "Bislang ist das Verhältnis etwa Hälfte - Hälfte", sagt eine grauhaarige Demonstrantin.
In der Halle ist das Bild nicht klarer. Redner nach Redner tritt ans Pult, um für oder gegen die Zustimmung der Grünen zum Ende der Kernkraft bis 2022 zu werben. Den Gegnern geht der Ausstieg nicht schnell genug, sie wollen das letzte Kernkraftwerk bereits 2017 abschalten. Das wollen die Befürworter zwar irgendwie auch, doch in ihren Augen wiegt es schwerer, ein gesamtgesellschaftliches Signal für den Ausstieg zu setzen, das auch international Wirkung zeigen soll. Deshalb werben sie für ein "Ja, aber" zum Ausstiegsgesetz der Bundesregierung.
Die Grünen haben es sich noch nie einfach gemacht. Als einzige beschäftigen sie sich auf einem Parteitag mit der Entscheidung zur Energiewende, wie sie nicht müde werden zu betonen. "Das ist ein Parteitag, wie wir ihn kennen und wie wir ihn lieben", sagt Grünen-Chefin Claudia Roth. Und fügt hinzu: "Ich befürchte, Ihr werdet es mir auch nicht ganz so einfach machen."
Das grüne Dilemma
Und das machen sie nicht. Über fünf Stunden streitet die Partei um das Für und Wider einer Unterstützung von Schwarz-Gelb. "Wir machen Merkel zur atompolitischen Einigungskanzlerin und das kann nicht sein", ruft etwa Miriam Staudte aus Lüneburg den Delegierten zu. "Sie ist eine Getriebene und muss eine Getriebene bleiben." Rebecca Harms hält dagegen: "Es ist schon komisch, wenn die falsche Regierung das Richtige tut. Das Richtige wird dadurch aber nicht falsch", sagt die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament. Der Applaus ist bei beiden Rednerinnen laut.
Die Grünen stecken in einem Dilemma. Einerseits geht es um die Erfüllung ihrer wichtigsten Forderung - dem Ende der Atomkraft. Andererseits müssen sie diese Herzensangelegenheit ausgerechnet dem politischen Gegner überlassen. Parteichefin Roth versucht deshalb, den schwarz-gelben Ausstieg als grünen Sieg zu verkaufen und nennt ihn "eine desaströse Niederlage der Atomparteien". Roth eröffnet die Debatte mit einer über 20-minütigen Rede. Sie, die Parteilinke, wirft sich mit Verve in den Ring, um für den Antrag des Bundesvorstand und die Zustimmung zum Ausstiegsgesetz zu werben.
Jugend trumpft auf
Die Grünen-Chefin versucht es mit der Beschwörung von Gemeinsamkeiten. Wie schon die Wahlkampfplakate vergangener Zeiten an den Wänden der Messehalle, erzählt auch Roth die Geschichte des grünen Widerstands gegen die Atomkraft. "Wie oft saßen wir im Wendland zusammen auf den Straßen." Neckarwestheim, Ahaus, Lubmin, Biblis und Grundmemmingen: "Wir waren die Spinner, die Windradökos, Träumer, Chaoten und Krawallis." Und nur, weil die Partei jetzt für den Ausstieg bis 2022 zustimme, sei der Kampf noch nicht vorbei. "Unsere Zustimmung zum Atomausstieg ist doch kein Blankocheck", ruft Roth. "Die Energiewende hat gerade erst begonnen."
Der Applaus für die Grünen-Chefin ist groß und dauert lang. Roth sitzt sichtlich erleichtert auf der Bühne und strahlt ins Plenum. Geschafft, so scheint es, die Partei folgt dem Vorstand. Doch schon die nächste Rednerin belehrt sie eines Besseren.
Ans Pult tritt Gesine Agena, Sprecherin der Grünen Jugend. "Warum sollen wir einem Konsens zustimmen, wenn über diesen Konsens mit uns weder gesprochen noch verhandelt wurde?", ruft sie den Delegierten zu. "Wenn Merkel nicht den Mut hat, mit uns zu verhandeln, dann verdient sie auch die Zustimmung nicht", legt sie nach und erntet Beifall, der mindestens ebenso laut ist wie bei Roth zuvor. Alles wieder offen, so scheint es nun.
Was misst das Applaus-O-Meter?
Von nun an findet das Duell nicht mehr nur oben auf dem Podium statt. Im Saal ringen die Grünen nach jedem Redebeitrag darum, den größten Applaus, die lauteste Zustimmung abzuliefern. Den Höhepunkt erreicht dieser Jubelwettbewerb bei Christian Ströbele. Das linke Urgestein aus Berlin-Kreuzberg stemmt sich leidenschaftlich gegen die Zustimmung. "Fünf Jahre sind 1825 Tage zu viel", sagt Ströbele. "Der Kampf geht weiter. Auf der Straße, im Bundestag und überall, wo wir tätig sind." Tosender Applaus, Teile der Delegierten erheben sich, "Abschalten!"-Rufe hallen durch den Saal. Versteinerte Gesichter bei Roth und ihrem Co-Vorsitzenden Cem Özdemir auf dem Podium. Die Stimmung scheint zu kippen.
Doch auf Ströbele folgt Renate Künast. Die Parteitagsstrategie ahnte wohl schon, welch Ungemach drohen könnte. Künast, Fraktionschefin im Bundestag, will im Herbst Bürgermeisterin in Berlin werden. Die Realo-Frau wirbt für pragmatische Politik, die mehrheitsfähig ist. "Am Donnerstag werden wir uns fühlen wie Popey, wenn er Spinat gegessen hat", sagt sie und verspricht: "Wir kämpfen, bis wir eine Europäische Union für erneuerbare Energien haben." Nun gibt es standing ovations von den Zustimmungsbefürwortern - Ströbeles Vorlage ist zurückgeschlagen.

Kretschmann schließlich sieht die Grüne als "das Maß aller Dinge in der Energiepolitik" und sorgt für ein Ergebnis.
(Foto: dapd)
Endgültig kippt die Stimmung schließlich bei Winfried Kretschmann, dem grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Er ist so etwas wie das neue Maskottchen der Partei. Allein die Nennung seines Namens reicht aus, um Beifallstürme zu erzeugen. Kretschmann streichelt erst einmal die grüne Seele. "Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann siegst du", zitiert er Mahatma Gandhi. "Wir Grünen sind das Maß aller Dinge in der Energiepolitik." Dann wird er aber ganz der Pragmatiker, der ihm im Ländle den Erfolg gebracht hat. "Wenn man sich als 20-Prozent-Partei zu 80 Prozent durchsetzt, ist es ein guter und vertretbarer Kompromiss", sagt er mit seinem einzigartigen Kretsch-Krächzen. "Dieser Kompromiss hat einen sehr hohen Wert."
Das sehen letztlich auch die meisten Grünen so: Mit großer Mehrheit stimmen sie für das Ja zum Atomausstieg bis 2022. Ohne Bedingungen.
Quelle: ntv.de