Politik

Ernüchternder Parteitag in Berlin Grüne trauern Roth nach und strafen Özdemir

Ein neidischer Blick? Auf der Applausskala hängt Roth ihren früheren Amtskollegen Özdemir deutlich ab.

Ein neidischer Blick? Auf der Applausskala hängt Roth ihren früheren Amtskollegen Özdemir deutlich ab.

Die Grünen starten geschwächt in die neue Legislaturperiode. Nicht nur wegen ihres enttäuschenden Ergebnisses bei der Bundestagswahl. Auf dem Parteitag in Berlin bekommt die neue Führungsspitze nur ein mageres Mandat.

Im Moment, in dem das Wahlergebnis durch das Berliner Velodrom hallt, ballt Cem Özdemir die Faust und presst seinen Lippen aufeinander. Er springt auf, drängt sich an Kameraleuten und Reportern vorbei zu seiner Frau. Özdemir nimmt sie in den Arm, drückt ihr einen Kuss auf. Ein triumphaler Augenblick?

Tatsächlich ist es wohl nur der Versuch, einen Triumph zu mimen. Bestenfalls ist Özdemirs Freude echt und ihm bewusst, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können.

Die Grünen haben ihren Vorsitzenden auf ihrem Parteitag mit 71 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Das ist nicht verheerend, doch es ist ein mageres Ergebnis. Zu seinen besten Zeiten konnte Özdemir noch deutlich mehr als 80 Prozent der Delegierten für sich begeistern. Das jüngste Ergebnis muss man daher auch als eine Art Quittung lesen.

Nach dem Wahldebakel Ende September zog eine Reihe von Spitzengrünen die Konsequenzen und gab ihren Posten auf. Özdemir zählte nicht dazu.

Systematische Ernüchterung

Dass ihm bewusst ist, dass er die Delegierten umschmeicheln muss, macht Özdemir schon während seiner Bewerbungsrede um das Amt deutlich. Den Vertretern aus den Landes- und Kreisverbänden sagt er: "Wir wären bescheuert, wenn wir das Know-How, das in den Ländern sitzt, nicht besser in der Bundespolitik zum Einsatz bringen." Neben derart offensichtlichen Buhlereien wettert er beherzt gegen die Flügelkämpfe zwischen Realos und Linken, die die Partei in den vergangenen Monaten aufrieben.

Das Wort "Ich" benutzt er bei seiner Rede kaum. Obwohl er als Bundesvorsitzender selbstredend schon seit 2008 verantwortlich für die Kommunikation mit den Ländern und die Harmonisierung der Flügel zeichnet.

71 Prozent – angesichts seiner heftig beklatschten Bewerbungsrede ist das Ergebnis umso ernüchternder. Und Ernüchterung erscheint systematisch für die Stimmung auf dem Parteitag an diesem Samstag.

Für Roth ist es vorbei, bye, bye...

Claudia Roth, die nicht wieder als Parteivorsitzende antrat, zelebriert kurz vor der Wahl der neuen Führungsriege ihren Abschied von der Bundesspitze. Bilder von dem schrillen Urgestein flimmern über die großen Monitore im Velodrom. Dazwischen immer wieder Zitate von Parteikollegen. Jürgen Trittin sagt: "Ohne Claudia Roth wird sich diese Partei neu erfinden müssen." Joschka Fischer sagt: "Ihre Umarmungen werden der Partei fehlen." Und Fritjof Schmidt, der die Laudatio auf Roth hält, nennt sie die "emotionale Verkörperung der Grünen." Selbst Erzkonservative wie der CSU-Politker Günther Beckstein stimmen in die Lobeshymne ein. Ihr Engagement für Flüchtlinge hätte ihn nachdenklich gemacht.

Spätestens als Roth in den Rio-Reiser-Klassiker "Junimond" miteinstimmt ("Es ist vorbei, bye, bye...), gilt es, gegen  die Tränen zu kämpfen – für Roth und einige Delegierte. Minutenlang feiern die Grünen ihre frühere Spitzenfrau. Wehmut macht sich breit. Und das treibt die Ernüchterung an diesem Tag nur voran.

Peter kann Emotionalität ihre Vorgängerin nicht beschwören

Simone Peter hält wenig später ihre Bewerbungsrede um die Nachfolge Roths. Nach ein paar Sätzen wird dabei auch dem letzten Delegierten klar: Die Emotionalität,  die Leidenschaft, die sie an Roth eben noch feierten, kann sie bei allem Bemühen nicht heraufbeschwören.

Peter spricht über die klassischen Roth-Themen. "Die Würde des Menschen macht nicht an Landesgrenzen halt und auch nicht an den Grenzen Europas", sagt sie. "Wir können die Parole 'Das Boot ist voll' nicht mehr hören." Doch ihre Worte verflüchtigen sich binnen Sekunden. Peters Augen kleben geradezu auf ihrem Lesemanuskript und sie mit ihren Händen am Pult.

Knapp 76 Prozent der Delegierten geben ihr ihre Stimme. Bei Roth waren es auf dem Parteitag der Grünen im vergangenen Jahr noch 88. Ideale Voraussetzungen für einen Neuanfang sind das nicht. Der Bundesvorstand der Grünen ist geschwächt.

Die Hoffnung vieler Grüner dürfte sich jetzt auf Anton Hofreiter stützen. Der neue Fraktionschef hielt eine unkonventionelle, starke Rede. Seine weibliche Kollegin, Katrin Göring-Eckardt, steckt dagegen wie Özdemir in dem Dilemma, für den gescheiterten Wahlkampf verantwortlich gezeichnet zu haben, aber nicht die personelle Konsequenz daraus gezogen zu haben.

Quelle: ntv.de

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