Politik

Gysi auf dem Weg nach Kiew "Selbstverständlich hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen"

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In einer Suppenküche in Lwiw packen Gregor Gysi und Gerhard Trabert (v.l.) Medikamente und Verbandsmaterial aus.

(Foto: privat)

Der Linken-Politiker Gregor Gysi ist derzeit in der Ukraine unterwegs - heute in Lwiw (Lemberg), morgen in Kiew, erst Ende der Woche kommt er zurück. Zusammen mit dem Mediziner Gerhard Trabert bringt er humanitäre Hilfe ins Land. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt er nach wie vor ab. "Meines Erachtens spricht unsere Geschichte dagegen", sagt er im Interview mit ntv.de. "Ich räume aber ein: Das liegt auch ein bisschen an meinem Alter. Wenn man jünger ist, hat man nicht mehr diesen Bezug zur Geschichte, den ich noch habe."

ntv.de: Hallo Herr Gysi, wo erreiche ich Sie?

Gregor Gysi: Im Moment sind wir in einem Basilianerkloster in der Nähe von Lemberg.

Sie sind am Dienstag in die Ukraine gereist, wo waren Sie bislang und wen haben Sie getroffen?

Heute früh waren wir in einer katholischen Suppenküche, in der normalerweise ärmere Menschen Hilfe erhalten. Das passiert jetzt auch noch, aber zusätzlich werden dort nun Flüchtlinge versorgt, aus Kiew, aus Mariupol und aus dem Donbass-Gebiet. Die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer dort machen jeden Tag 56 Mittagessen. Außerdem gibt es einen Kindergarten, für den sie auch das Essen kochen, und sie stellen Erste-Hilfe-Taschen zur Verfügung, die die Menschen dringend benötigen - nicht nur die Soldatinnen und Soldaten. Wir haben uns die Einrichtung angesehen und Medikamente und Verbandsmaterial mitgebracht, über das sie sich sehr gefreut haben; ich bin mit dem Mediziner Gerhard Trabert unterwegs, dem Vorsitzenden des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland.

Wir haben dort auch notiert, welche Hilfe noch benötigt wird, zum Beispiel Mullbinden und Material zum Abbinden der Arme und Beine, wenn jemand Schussverletzungen erlitten hat. Wir stehen in Kontakt mit Apotheker ohne Grenzen und werden versuchen, für die regelmäßige Versorgung mit Medikamenten und Verbandsmaterial zu sorgen. Das ist mir wichtig: dass man Dinge sendet, die wirklich gebraucht werden. Dann haben wir noch eine Spende von 3000 Euro übergeben, über die sich die Helferinnen und Helfer in der Suppenküche auch sehr gefreut haben. Und von dort sind wir hierhergefahren.

Ins Kloster?

Das ist eigentlich eine katholische Priesterschule, die 170 Flüchtlinge aufgenommen hat. Mit denen zusammen werden wir gleich Mittag essen. Danach fahren wir zu einem Wallfahrtsort, wo auch viele Flüchtlinge untergebracht sind - viel beengter als hier. Heute Nacht fahren wir weiter nach Kiew.

Wie lange bleiben Sie in der Ukraine?

Bis Samstag oder Sonntag. Die Bundestagspräsidentin und das BKA fanden das zu lang, aber zu einer Stippvisite waren wir nicht bereit. Da steht man dann vor Fernsehkameras und fährt gleich wieder zurück. Um Empathie zu entwickeln, braucht es mehr Zeit.

Eine Sicherheitsbegleitung haben Sie nicht dabei?

Nein, und das ist auch nicht nötig.

Haben Sie bereits einen Luftalarm miterlebt?

Ja, gestern, kurz vor unserer Ankunft in Lemberg sind fünf Raketen eingeschlagen, den Qualm haben wir gesehen und fotografiert. Die Suppenküche, die wir heute besucht haben, ist in einem Gebäude untergebracht, das einen Keller mit einer stark betonierten Decke hat. Dort finden die Bewohnerinnen und Bewohner Schutz. Eine Stunde nach unserer Ankunft kam Entwarnung. Wir selbst waren nicht im Luftschutzkeller.

Haben Sie in der Ukraine Gespräche geführt, die Ihren Blick auf den Krieg verändert haben?

Wir haben einige Gespräche geführt, da ging es aber in der Regel um humanitäre Hilfe. Uns wurde das Leid der Menschen geschildert, uns wurde auch erklärt, welche Gebiete früher einmal russisch und welche immer ukrainisch waren und was das bedeutet. Lemberg selbst war ja mal polnisch, ist jetzt aber natürlich ukrainisch. Die Leute waren nicht sicher, ob wir Deutschen da so exakt unterrichtet sind, und da haben sie auch recht. Hier in der basilianischen Einrichtung haben wir mit dem Leiter gesprochen. Er hat uns erzählt, dass sie die 170 Flüchtlinge ganz gut versorgen können, weil sie Hilfe bekommen von katholischen Einrichtungen aus Frankreich und aus Deutschland, speziell aus Münster und München. Er erhielt von uns eine Spende in Höhe von 1000 Euro.

Ihre Haltung zu Waffenlieferungen hat sich nicht verändert? Sie sind weiter dagegen?

Richtig. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine bestreiten würde. Das hat sie. Aber meines Erachtens spricht unsere Geschichte dagegen, dass wir Waffen liefern. Von Deutschland ging der Zweite Weltkrieg aus, durch den in der Sowjetunion 27 Millionen Menschen ums Leben kamen, darunter sehr viele Russinnen und Russen, aber auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer und Menschen anderer Nationalitäten. Wenn wir damit anfangen, eine ehemalige Sowjetrepublik gegen eine andere aufzurüsten, dann garantiere ich Ihnen, kommen nach dem Krieg nicht nur Moldawien, sondern auch Armenien und Aserbaidschan. Armenien und Aserbaidschan würden diese Waffen nutzen, um Krieg gegeneinander zu führen. Ich sage daher, aufgrund unserer Geschichte sollten wir generell aufhören, an Kriegen zu verdienen und Waffen zu exportieren. Frankreich, Großbritannien, Schweden, Finnland - das sind andere Länder, die haben eine andere Geschichte, die können sich anders verhalten. Ich räume aber ein: Das liegt auch ein bisschen an meinem Alter. Wenn man jünger ist, hat man nicht mehr diesen Bezug zur Geschichte, den ich noch habe.

Gebietet nicht der linke Antiimperialismus, einem Land zu helfen, dessen Existenz von einer neoimperialistischen Macht bedroht wird?

Was wirklich begriffen werden muss, ist, dass nicht nur die USA imperiale Bestrebungen haben, sondern auch Russland - beziehungsweise die jeweiligen Führungen dieser Länder. Ich glaube, die Menschen sind gar nicht so imperial gestrickt. Putin träumt wahrscheinlich von Russland in der Größe des alten Zarenreiches - nicht der Sowjetunion, ich glaube, Litauen, Lettland und Estland interessieren ihn nicht besonders, obwohl sie auch zum Zarenreich gehörten. Wir müssen deshalb ebenfalls kritisch mit Russland umgehen, wie wir zu bestimmten Zeiten mit den USA umgegangen sind. Unter anderem werfe ich dem Westen zwei Momente vor: Zum einen, dass er nach 1990 glaubte, das Völkerrecht nicht mehr beachten zu müssen, etwa im Krieg gegen Serbien. Auch der damalige Kanzler Schröder hat zugegeben, dass dieser Krieg völkerrechtswidrig war, nur war er seiner Meinung nach moralisch notwendig. Aber jede Regierung findet moralische Rechtfertigungen für völkerrechtswidrige Kriege. Das andere war der Krieg gegen den Irak, an dem Deutschland nicht teilgenommen hat. Und das Zweite: Die NATO und die EU haben in Bezug auf die Ukraine vieles falsch gemacht. Statt die Ukraine als Brücke zwischen der EU und Russland zu sehen, haben beide Seiten immer daran gezerrt. Aber ich will auch betonen, dass es keinen einzigen Fehler auf Seiten von EU und NATO gab, der den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigt. Deshalb hat die Ukraine selbstverständlich ein Selbstverteidigungsrecht.

Auch Putin spricht über Serbien, wenn er auf die Ukraine angesprochen wird. Muss das sein, dass man auf die USA verweist, wenn es eigentlich um Russland geht?

Es muss nicht sein, aber ich mache das aus folgendem Grund: Es gibt bei uns unterschiedliche Auffassungen darüber, was nach dem Krieg zu geschehen hat. Die einen wollen eine gigantische Aufrüstung, also 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr im Grundgesetz verankern und zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, statt 47 Milliarden pro Jahr für die Bundeswehr wollen sie 75 Milliarden ausgeben. Ich finde das völlig falsch. Es heißt immer: Vieles funktioniert in der Bundeswehr nicht und die Soldatinnen und Soldaten haben im Winter keine warme Unterwäsche. Außerdem rollen die Panzer nicht, die Schiffe fahren nicht, die Flugzeuge fliegen nicht. Ich sage dazu: Frankreich gibt in etwa die gleiche Menge Geld für seine Armee und Rüstung aus und da funktioniert alles. Also liegt es nicht an der Menge des Geldes, sondern an der Art, wie es ausgegeben wird. Außerdem hat die NATO für ihre Armeen und Rüstung vor Beginn des russischen Angriffskrieges das 20-Fache ausgegeben wie Russland. Wie kann man da auf die Idee kommen, dass die Gefahr beseitigt wird, wenn wir das 25- oder 30-Fache ausgeben? Ich möchte, dass wir nach dem Krieg zurückkehren zur Diplomatie. Die ist in den letzten Jahren vernachlässigt worden. Und dass wir vor allen Dingen zurückkehren zur strikten Einhaltung des Völkerrechts. Ich erwähne die USA und die NATO deshalb, weil sie begonnen haben, das Völkerrecht nicht ernst zu nehmen. Mit der Folge, dass immer mehr Staaten das Völkerrecht ebenfalls nicht ernst nehmen. Deshalb möchte ich, dass wir uns alle besinnen. Auch die Linke darf sich nicht aussuchen, welchen Bruch des Völkerrechts sie hinnimmt und welchen sie kritisiert. Zum Völkerrecht muss man im Ganzen stehen, gerade die demokratischen Länder.

Wenn Sie die Bilder von den "Z"-Jubelfeiern in Russland sehen oder die Bilder von den Proben für den Aufmarsch am 9. Mai in Moskau, oder wenn Sie davon lesen, dass in Russland sogar Menschen festgenommen werden, die leere oder nur imaginäre Plakate in den Händen halten, oder wenn Sie die Rhetorik der russischen Regierung hören - was denken Sie dann?

Dann denke ich, dass das Erste, was im Krieg immer stirbt, die Wahrheit ist. Zweitens denke ich, dass da eine ungeheure Propaganda betrieben und versucht wird, die Bevölkerung in eine bestimmte Stimmung hineinzubringen. Und deshalb sage ich auch: Es ist eine Illusion, zu glauben, dass die russische Bevölkerung sich gegen Putin wenden wird, wenn wir Sanktionen beschließen, die die russische Bevölkerung treffen. Wir haben in Russland keine mediale Hoheit. Putin wird dafür sorgen, dass eine Stimmung gegen uns entsteht. Deshalb bin ich für Sanktionen gegen die russische Führung und gegen die Oligarchen, aber gegen Sanktionen, die die Bevölkerung treffen. Außerdem haben die Sanktionen nichts genutzt. Wir müssten vielleicht mal über andere Instrumente nachdenken.

Ich wollte eigentlich auf den Charakter des russischen Regimes hinaus. Wie würden Sie das politische System in Russland beschreiben?

Das wird immer autoritärer. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entwickelten sich demokratischere Strukturen. Aber jetzt werden sie täglich autoritärer, das geht in Richtung diktatorischer Strukturen. Das Problem ist nur: Das Völkerrecht unterscheidet nicht zwischen Demokratien, autoritären Systemen und Diktaturen. Es kennt nur Rechte und Pflichten von Staaten. Und Menschenrechte.

Ihre Fraktionskollegin Sevim Dağdelen hat den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk am Dienstag einen "Nazi-Versteher" genannt und seine Ausweisung gefordert, weil er den Bundeskanzler eine beleidigte Leberwurst genannt hatte. "Nazi-Versteher", wie finden Sie das?

Das ist nicht unsere Aufgabe. Natürlich ist er höchst undiplomatisch, in dem er zum Beispiel den Bundeskanzler beleidigt, und seine Begeisterung für Bandera ist mehr als fraglich. Der Botschafter stellt auch Behauptungen auf, die wir kritisieren müssen, zum Beispiel die, dass wir den atomaren Krieg nicht zu fürchten brauchen. Aber man muss in der Kritik sich schon deshalb beherrschen, weil dieser Botschafter im Augenblick sagen kann, was er will. Die Außenministerin wagt sich ohnehin nicht, ihn zur Persona non grata zu erklären.

Mit Gregor Gysi sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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