Parlamentswahlen in der Türkei Ist das der Anfang vom Ende Erdoğans?
03.06.2015, 09:22 Uhr
(Foto: REUTERS)
So spannend waren die türkischen Parlamentswahlen sehr lange nicht mehr. Eine kleine Partei könnte das politische System des Landes durcheinanderwirbeln und die Vision von Staatspräsident Erdoğan zerstören. n-tv.de erklärt die Hintergründe des richtungsweisenden Urnengangs.
Ein Konvoi hupender Wagen rollt am Alexanderplatz vorbei. Aus den Fenstern der SUVs und Limousinen ragen winkende Arme. "Watt is datt denn?", fragt die Mitvierzigerin am Straßenrand. "Türkische Hochzeit, wa?" Ihre Freundin stimmt ein. "Nee, oder? Und dafür sperren die hier alles?" Große Verwirrung in Berlin.
Der Konvoi, der da entlangrollt, hat nichts mit einer türkischen Hochzeit zu tun, das verraten die kleinen Fähnchen, mit denen einige der Leute wedeln. HDP steht darauf und darüber das lila-grüne Logo der Halkların Demokratik Partisi, der "Demokratischen Partei der Völker". Es ist ein Stück türkischer Wahlkampf in Deutschland. n-tv.de erklärt, was es mit der HDP auf sich hat und was man sonst noch über den Urnengang am 7. Juni wissen sollte.
Eine kleine Partei lässt die Mächtigen zittern
Bemerkenswert ist an dieser Wahl, dass plötzlich eine kleine Partei im Mittelpunkt des Interesses steht: die HDP. Einst war sie vor allem eine Vertretung der kurdischen Minderheit in der Türkei. Sie war so etwas wie der politische Arm der als Terrororganisation eingestuften PKK. Doch davon kann keine Rede mehr sein. Die HDP rund um ihren Spitzenmann Selahattin Demirtaş hat längst den Anspruch, eine Partei für alle Türken zu sein. Sie will nicht nur den Friedensprozess zwischen PKK und türkischer Regierung vorantreiben. Themen wie die Gleichstellung von Mann und Frau, die Ökologie und der Schutz von Minderheiten sind Grundfesten ihres politischen Programms.

Der prominenteste HDP-Politiker, Selahattin Demirtaş, gibt sich optimistisch. Als Ziel hat er seiner Partei 100 Sitze und 15 Prozent der Stimmen gesteckt.
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Weil sich die HDP breiten Wählerschichten öffnet, findet sie zusehends Anhänger unter türkischen Sozialisten und Liberalen. Viele junge Türken der Generation Gezi unterstützen sie genauso wie konservative und auf Ökonomie bedachte Kurden, die früher die islamisch-konservative Regierungspartei AKP gewählt haben. Das Ergebnis: Erstmals in ihrer Geschichte könnte die HDP die Zehn-Prozent Hürde für den Einzug in das türkische Parlament überwinden. Das hätte weitreichende Folgen. Die Türkei hätte auf einmal ein Vier-Parteien-System. Die regierende AKP müsste um ihre absolute Mehrheit fürchten. Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan würde es schier unmöglich, seine politische Vision einer "Neuen Türkei" durchzusetzen. Und damit könnte gar der Anfang vom Ende der Ära Erdoğan beginnen. Führende AKP-Politker, allen voran der nur auf dem Papier mächtigste Mann des Landes, Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, könnten sich von Erdoğan emanzipieren.
Der Mächtige kann von der Macht nicht lassen
Auch Politiker aus Deutschland setzten deshalb auf die HDP. Grünen-Chef Cem Özdemir sagte n-tv.de: "Der Erfolg der HDP ist ein Gradmesser dafür, wohin sich die Türkei entwickelt." Was er damit meint, illustriert eine Anekdote aus dem Wahlkampf. Präsident Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu eröffneten vergangene Woche den Flughafen Yüksekova. Der Staatssender TRT berichtete live. Als die beiden Spitzenpolitiker zu sehen waren, blendete TRT folgenden Satz ein: "Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Erdogan führen die Eröffnung durch." Ein Freud'scher Verschreiber.

Oppositionelle beklagen den zunehmend autoritären Herrschaftsstil von Präsident Erdoğan.
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Mehr als zehn Jahre lang hat Erdoğan die Türkei als Ministerpräsident regiert. Er brachte dem Land zwar gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung. Doch mit jedem Jahr an der Macht trat er ein wenig autoritärer auf. Erdoğan ging gegen Oppositionelle vor, drangsalierte die Presse und versuchte, in sozialen Netzwerken die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Auch Teile der Justiz und des Polizeiapparats unterjochte er. Auf Kritik aus dem Ausland reagierte Erdoğan mit nationalistischen Verschwörungstheorien. Die Türkei galt einst als Brücke zwischen Ost und West, zwischen christlich geprägten Demokratien und dem Islam. Erdoğan trieb sie zusehends in die diplomatische Isolation.
Als Erdoğan den Posten des Ministerpräsidenten nach zwei Amtszeiten aufgeben musste und Präsident wurde, installierte er mit Davutoğlu einen treuen Untergebenen als Nachfolger. Gemeinsam arbeiten die beiden nun auf eine Verfassungsänderung hin, die nur ein Ziel hat: den eigentlich unparteiischen und vor allem repräsentativen Staatspräsidenten mit umfangreichen Machtbefugnissen auszustatten. Der Grüne Özdemir spricht von einem "Putinregime".
Die Opposition ist divers und zerstritten
Ob die Opposition in der Türkei das ohne die Hilfe der HDP verhindern kann, ist ungewiss. Die von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gegründete Mitte-Links-Partei CHP und die rechtsextreme MHP konnten der AKP zuletzt wenig entgegensetzen. Bei den Parlamentswahlen 2011 holten sie knapp 26 und gut 13 Prozent. Das reichte nicht. Obendrein sind sie zu unterschiedlich, um ihre Kräfte zu bündeln.
Doch auch wenn es der HDP nicht gelingen sollte, dieses oppositionelle Machtvakuum durch einen Einzug ins Parlament zu kompensieren, hat Erdoğan kein leichtes Spiel. Um ein Mandat für seine Verfassungsänderungen zu bekommen, braucht die AKP eine Zweidrittelmehrheit aus 367 Abgeordneten. Mit 330 Sitzen könnte sie zumindest noch ein Referendum beantragen. Darin könnten die Bürger mit einfacher Mehrheit für eine Verfassungsänderung stimmen - oder dagegen. Selbst für jene 330 Sitze braucht die AKP allerdings ein sehr starkes Ergebnis. (Wer sich für die Auswirkungen eines Einzugs der HDP auf die Sitzverteilung besonders interessiert, kann Mithilfe eines Online-Simulators verschiedene Szenarien durchspielen.)
Der Grüne Özdemir sagte im Interview mit n-tv.de: "Es kommt auf jede Stimme an." Und er warnte vor den Folgen eines Sieges Erdoğans. Über die Repressionen in dem Land sagte er: "Das ist nur ein Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn er die Türkei alleine regiert."
Bleibt eine Frage, die sich vermutlich nicht nur die zwei Frauen vom Alexanderplatz stellen: Was geht es uns an, wie die Wahl in einem Land am südöstlichsten Zipfel des Kontinents ausgeht? Tatsächlich gibt es viele Gründe. Die Türkei ist nicht nur EU-Beitrittskandidat, sondern auch Nato-Mitglied und hier angesichts ihrer geografischen Lage von besonderer Bedeutung. Als unmittelbarer Nachbar Syriens und des Iraks, aber auch des Irans spielt sie eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Eine weitere Isolierung des Landes, die mit einem Erfolg Erdoğans einhergehen dürfte, stellt auch eine Gefahr für die Sicherheit Deutschlands dar. Die Türkei entlastet die Bundesrepublik zudem in der internationalen Flüchtlingskrise. Allein aus Syrien haben 1,8 Millionen Menschen Schutz in dem Land gefunden. Und nicht zuletzt leben in Deutschland knapp drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Ungefähr die Hälfte von ihnen ist in der Türkei wahlberechtigt.
Quelle: ntv.de