
Wahlplakate in Berlin
(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Landtagswahlen sind oft vor allem Ländersache, doch dieser Sonntag bewegt alle Bundesparteien: Die SPD könnte nach zwei Jahrzehnten das Rote Rathaus verlieren. Der CDU droht ein bittersüßer Wahlsieg, die weiteren Parteien müssen vor allem eins - bangen. Und dann wäre da noch die Sache mit der Wahlbeteiligung.
Der heutige Sonntag ist ein Novum in der deutschen Demokratiegeschichte. Erstmals muss eine Landtagswahl wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt werden. Und über alle dem schwebt die Unsicherheit eines Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht, ob die gerichtliche Anordnung zur Wiederholung der Wahl rechtens war. Dieser Unsicherheit zum Trotz sollen die Berlinerinnen und Berliner nun das Abgeordnetenhaus - also das Parlament des Stadtstaates - und die Bezirksverordnetenversammlungen für den dreieinhalbjährigen Rest der angebrochenen Legislaturperiode neu wählen. Die Bedeutung dieser Wahl geht dabei weit über die Hauptstadt hinaus. Alle im Bundestag vertretenen Parteien haben viel zu verlieren - und auch der Demokratie droht ein echter Schaden.
Verliert die SPD das Rote Rathaus?
Klaus Wowereit, Michael Müller, Franziska Giffey: Seit 21 Jahren stellt die SPD den Regierenden Bürgermeister. Nachdem Müller zunehmend glücklos agierte, sollte die vormalige Neuköllner Bezirksbürgermeisterin und Bundesfamilienministerin Giffey das Blatt für die Sozialdemokraten wenden. Mit Erfolg: Trotz ihrer Doktor-Affäre im Nacken konnte sich die heute 44-Jährige bei der Wahl am 26. September 2021 durchsetzen. Sie setzte die von ihr ungeliebte Koalition mit Grünen und Linkspartei fort, doch der neugewählte Senat fiel den Berlinern seither vor allem durch Uneinigkeit auf, während tatsächlich angeschobene Reformen in der kurzen Regierungszeit noch gar keine Wirkung entfalten konnten.
Kurz vor dem Wahltag liegt die SPD in Umfragen mal knapp, mal abgeschlagen hinter der CDU. Giffey könnte ihre Regierung fortsetzen, wenn der Abstand zu den Christdemokraten nicht allzu groß ausfällt oder die SPD doch noch gewinnt. In letzterem Fall könnte sie womöglich auch neue Bündnisse mit CDU und/oder FDP schnüren. Der Bundes-SPD dürfte beinahe egal sein, wie es Giffey am Ende macht. Hauptsache, die SPD verliert nicht einen der prestigeträchtigsten Länder-Chefposten. Es wäre ein denkbar schlechter Start ins neue Wahljahr.
Die CDU hofft auf die Sensation
Stark in der Fläche, schwach in den Städten: Von den 15 größten Städten Deutschlands regiert die Union nur vier, darunter keine Millionenmetropole. Weil die Union um diese Schwäche weiß, hatte ihre Bundestagsfraktion schon während der vorletzten Legislaturperiode einen Metropolenbeauftragten: den damaligen Abgeordneten Kai Wegner. Nun könnte der Mann aus dem Westberliner Randbezirk Spandau seine damalige Mission vollenden und im dritten Anlauf Bürgermeister Berlins werden - der erste CDU'ler seit Eberhard Diepgen, in dessen Regierungszeit der folgenschwere Berliner Bankenskandal fiel.
Das Horrorszenario der Christdemokraten: Ihre Partei läuft endlich auf Platz eins ein und das rot-grün-rote Regierungsbündnis macht einfach weiter wie bisher. Weder Giffey noch ihre Partei sind scharf darauf, Juniorpartner der CDU zu werden. Und einem schwarz-grünen Bündnis haben beide Seiten bereits Absagen erteilt. Die waren zwar nicht endgültig, aber gerade in der Verkehrspolitik sind die Gegensätze kaum zu überwinden. Auch CDU-Chef Friedrich Merz drückt Wegner die Daumen, es wäre der dritte Landtagswahlsieg in seiner etwa mehr als einjährigen Zeit als Vorsitzender. Doch ohne Koalitionsoptionen droht der CDU ein bittersüßer Wahlabend.
Das Ende des Grünen-Aufschwungs
Wahlergebnisse der Grünen kennen seit Jahren, von Ausnahmen wie dem Saarland abgesehen, nur eine Richtung: nach oben. Die Partei ist längst SPD-Widersacher auf Augenhöhe. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 lag die damals weitgehend unbekannte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch am Wahlabend zwischenzeitlich gar gleichauf mit Giffey und der SPD. Nun könnten die Grünen in Berlin weniger Prozente einfahren als bei der vorangegangenen Wahl. Der Streit um Verkehrswegeplanung und die angedrohte Halbierung der Zahl der öffentlichen Pkw-Parkplätze sind dabei ebenso wenig hilfreich wie das Umfrageduell zwischen Wegner und Giffey. Wer die CDU verhindern möchte, und das sind nicht wenige in Berlin, könnte auch als Grünen-Wähler sicherheitshalber die Giffey-Partei ankreuzen.
FDP kratzt am nächsten Rauswurf
Das Jahr 2022 war denkbar unschön für die FDP. In Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein wurden die vorherigen Wahlergebnisse jeweils halbiert, im Saarland und in Niedersachsen verpassten die Liberalen gar den Einzug ins Parlament. Auf jede dieser Wahlen folgten neue Verhärtungen im Bund, weil die FDP mit ihrer Rolle in der Ampel hadert.
Auch bei der Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl sahen Umfragen die Liberalen zwischenzeitlich gefährlich nahe an der 5-Prozent-Marke. Inzwischen liegen die Werte stabil bei um die 7 Prozent. Doch ähnlich den Grünen könnten auch die FDP und ihr Spitzenkandidat Sebastian Czaja - der Bruder des CDU-Generalsekretärs Mario Czaja - unter die Räder des Duells zwischen CDU und SPD geraten. Der dritte Rauswurf aus einem Landesparlament in kaum mehr als einem Jahr würde für das Klima in der Ampel-Koalition nichts Gutes heißen.
Die Verzwergung der Linken vor der Fortsetzung
Schon der 26. September 2021 war ein Desaster für die Linkspartei. Es gelang ihr nur mit Ach und Krach, in Fraktionsstärke in den Bundestag einzuziehen - dank zwei von insgesamt drei Direktmandaten im Berliner Osten. Ins Abgeordnetenhaus zog die Linke mit leichten Verlusten von 1,5 Prozentpunkten ein. Nun könnte sie ausweislich der Umfragen von 14,5 auf 11 Prozent fallen. Dabei sind die hohe Inflation, gestiegene Energiepreise und die Wohnungsnot in Berlin allesamt klassische Themen zur Mobilisierung der Linkenwähler. Doch ihr altes Stammklientel im Osten der Stadt stirbt weg, das links-urbane Milieu in der City besetzen die Grünen. Und wenn es schlecht läuft, kommt erst keine Fortsetzung des rot-grün-roten Senats in Berlin zustande und dann könnte die Linke im Frühjahr auch noch aus der Bremer Landesregierung fliegen. Zwei von vier verbliebenen Regierungsbeteiligungen fielen weg. Der freie Fall der Linkspartei nimmt kein Ende, wenn er auch langsam vonstattengeht.
Die AfD tritt auf der Stelle - bestenfalls
Auch die AfD kann anders als erwartet kaum von den Sorgen der Bürgerinnen und Bürger über die gestiegenen Lebenshaltungskosten profitieren. Nachdem sie 2021 von 14,2 auf 8 Prozent abgestürzt war, kann sie auch diesmal mit einem in etwa so hohen Ergebnis rechnen. Auch die Gewaltexzesse in der Berliner Silvesternacht in Vierteln mit hohem Migrationsanteil sowie die immensen Herausforderungen des hohen Flüchtlingszustroms in die Hauptstadt zahlen nicht auf das Konto der AfD ein. Die Partei tritt in Berlin wie im Westen Deutschlands bestenfalls auf der Stelle. Im elften Jahr ihres Bestehens kann sich die AfD auch von den weiteren Landtagswahlen in Bremen, Hessen und Bayern nicht viel erwarten. Ihr Fokus gilt daher vor allem dem Herbst 2024: Dann wird in ihren Hochburgen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen neu gewählt.
Der Demokratie droht großer Schaden
"Wir ersetzen das Parlament, was die höchste Wahlbeteiligung seit mehr als 30 Jahren hatte, möglicherweise durch ein Parlament mit einer der niedrigsten Wahlbeteiligungen", sagte Abgeordnetenhaus-Präsident Dennis Buchner der "Berliner Morgenpost". "Das ist kein gutes Signal für die Stadt Berlin", so der Sozialdemokrat. 75,4 Prozent der Wahlberechtigten hatten sich an der Abstimmung beteiligt, nach 66,9 Prozent in 2016.
Zustande kam der Wert am 26. September 2021, als parallel zur Berlin-Wahl auch über den Bundestag und über einen Volksentscheid zur Enteignung von Wohnungskonzernen abgestimmt wurde. Die Mobilisierung war hoch, zumal sich mit SPD, CDU und Grünen gleich drei Parteien Hoffnungen aufs Rote Rathaus machen konnten. Nun dürften Abgeordnete, in deren Wahlbezirken es 2021 gar keine Unregelmäßigkeiten gab, ihr Mandat verlieren zugunsten eines deutlich schwächer legitimierten Parlaments.
Bei vielen Stadtbewohnern ist die Wahlwiederholung noch nicht einmal richtig angekommen und wenn doch, gibt es viel Unverständnis für das 39 Millionen Euro teure Unterfangen. Die hohen Kosten kommen auch dadurch zustande, dass die Wiederholung durch mehr und besser bezahlte Wahlhelfer sowie mehr Wahlzettelausdrucke doppelt und dreifach abgesichert wird. Erneute Wahlpannen müssen unbedingt vermieden werden, weshalb diese Berlin-Wahl die teuerste aller Zeiten wird. Doch auf die Bilder von langen Warteschlangen vor den Wahlbüros von 2021 dürften nun Aufnahmen gelangweilt wartender Wahlhelfer folgen. Wenn es so kommt, wäre der Schaden für die Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen über ihre Stadt beträchtlich.
Quelle: ntv.de