Politik

Wie Europa nach den Weltkriegen Kann der Nahe Osten Frieden finden?

Schiitische Pilger im Irak machen sich im Schutz von Soldaten auf den Weg nach Kerbala.

Schiitische Pilger im Irak machen sich im Schutz von Soldaten auf den Weg nach Kerbala.

(Foto: REUTERS)

Nach mehreren Jahren als Korrespondentin im Nahen Osten kehrt die CNN-Journalistin Hala Gorani nach London zurück. Nun fragt sie sich, ob die zerstrittene Region je wiederaufgebaut werden wird – und ob Europa dabei als Vorbild dienen kann

Wieder nach London gezogen zu sein und von Geschichten aus diesem Teil der Erde zu berichten, hat mich an eine überaus wichtige historische Wahrheit erinnert: Westeuropa ist ein politisches, soziales und wirtschaftliches Wunder.

Man bedenke nur, dass gerade einmal sieben Jahrzehnte nach einem der blutigsten Kriege in der Geschichte der Menschheit, der obendrein von Völkermord geprägt war, die bloße Idee eines Konflikts in besagter Region undenkbar ist.

Hala Gorani

Hala Gorani

(Foto: CNN International)

Während ich im November über die Feierlichkeiten zum Jubiläum des Berliner Mauerfalls berichtete, wurde mir bewusst, welch einzigartigen Moments wir gedachten: Der Aufstand der Bevölkerung gegen einen repressiven Polizeistaat hatte dieses Symbol für Teilung und Tyrannei fallen lassen. Das Volk trug den Sieg davon, das diktatorische Regime stand dem machtlos gegenüber.

Kann man daraus also Hoffnung für den Nahen Osten ableiten? Schließlich waren die Opferzahlen sowie das Ausmaß der Zerstörung zwischen 1939 und 1945 um einiges größer gewesen, als dies in der arabischen Welt jemals der Fall war.

Oft nennen jene, die weiterhin Hoffnung für den Nahen Osten haben, das Europa der Nachkriegsära als Beispiel dafür, was erreicht werden kann. Selbst nach dem schlimmsten Krieg mit zig Millionen Opfern und in einer Zeit, in der 70 Prozent des Wohnraums zerstört waren, ist es möglich, dass sich Länder nicht nur erholen, sondern sogar aufblühen.

Westeuropa erlebte in den ersten drei Jahrzehnten nach Ende des Krieges tatsächlich seine intensivste Wachstumsperiode aller Zeiten. Politische Bündnisse wurden geschlossen und Wirtschafts- sowie Handelsabkommen traten in Kraft. Warum sollte dies also nicht auch im Nahen Osten funktionieren?

Die billiantesten Köpfe sind schon weg

Nun, leider sind dafür diverse Ursachen zu nennen:

Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass es in weiten Teilen der arabischen Welt nicht einmal einen Ansatz funktionierender demokratischer Institutionen gibt. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs folgte zunächst eine Periode der Kolonialherrschaft und eine kurze Phase politischen Chaos', infolge der Erlangung der Unabhängigkeit. Letztlich mündeten diese Geschehnisse in diverse Diktaturen.

Deutschland hatte während der Weimarer Republik zumindest eine Weile mit der Demokratie geflirtet. Politisch und sozial betrachtet ist Westeuropa im Übrigen über dreihundert Jahre gereift. Nichts von all dem trifft auf die arabische Welt zu.

Es gibt einen weiteren Grund, weswegen das bewährte Nachkriegsmodell nicht einfach kopiert werden kann: Deutschland und Japan verfügten über hochqualifizierte Arbeitskräfte, die den Wiederaufbau vorantreiben konnten.

Die gut ausgebildeten Arbeitskräfte aus Syrien, dem Libanon, Ägypten oder Jordanien verlassen ihre Länder hingegen in Scharen. Diese Abwanderung der Gebildeten hat die Region ihrer brillantesten Köpfe beraubt. Und wer das Land erst einmal verlassen hat, kommt in der Regel auch nicht mehr zurück – was angesichts der chronischen Instabilität in diesen Ländern niemanden überraschen kann.

Als dritter Grund ist zu nennen, dass die Kriege um die Teilung beziehungsweise Neugestaltung Europas schon vor dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hatten. Der Nahe Osten hingegen macht diesen Prozess erst jetzt durch. Die Implosion künstlicher Nationalstaaten und – wer weiß – die Neugestaltung von Ländern, die eventuell neu entstehen, hat gerade erst begonnen. Es gilt nämlich zu bedenken: wir befinden uns erst am Anfang, nicht am Ende eines Prozesses, für den Europa dreihundert Jahre gebraucht hat.

Die beste Zeit für ein Wunder

"Kolonialstaaten setzten das Staatensystem des Nahen Ostens ohne Rücksicht auf soziale oder wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeiten ein", erklärte mir erst kürzlich Fawaz Gerges, Professor an der London School of Economics. Desweiteren brauche die Region nun das, was Europa nach dem Krieg erhielt: historische Führung.

"Am Ende des Zweiten Weltkriegs traten die Vereinigten Staaten auf den Plan. Sie trafen nicht nur grundlegende Entscheidungen, sondern wendeten auch beträchtliche Ressourcen auf", sagte Gerges und fügte hinzu, dass in der arabischen Welt bisher nichts dergleichen geschehen sei und sich die Rolle des Westens zuletzt auf eine desaströse Invasion im Irak beschränkt habe.

Ich halte es für eine grandiose Idee, dass die Europäische Union 2012 den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Als das Komitee seine Entscheidung bekannt gab, reagierte manch einer ungläubig und ziemlich reserviert. Als langjährige Beobachterin jenes Desasters, das man als Nahen Osten kennt, fand ich die Entscheidung hingegen inspirierend.

Das Nobelkomitee erklärte seine Entscheidung damals folgendermaßen: "Deutschland und Frankreich haben binnen siebzig Jahren drei Kriege gegeneinander geführt. Heute jedoch ist ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich absolut undenkbar. Dies zeigt, wie historische Feindschaften durch gezieltes Engagement und das Aufbauen gegenseitigen Vertrauens zu Partnerschaften werden können."

Die Erfolgschancen für den Nahen Osten stehen katastrophal. Doch im Sinne all jener, die heute leiden müssen, ist diese Zeit des Jahres vielleicht die beste, um auf ein Wunder zu hoffen.

Hala Gorani lebt in London und arbeitet als Nachrichtensprecherin und Korrespondentin für CNN. Sie moderiert die Sendung "The World Right Now with Hala Gorani", die wochentags um 21 Uhr ausgestrahlt wird.

Quelle: ntv.de

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