Mord in saudischer Botschaft? Khashoggi - die verschwundene Stimme
07.10.2018, 15:15 Uhr
Jamal Khashoggi will im saudischen Konsulat in Istanbul die Papiere für seine Hochzeit abholen. Fünf Tage später wartet seine Verlobte noch immer auf die Rückkehr des bekannten Journalisten. Vergeblich, befürchten türkische Behörden.
Am vergangenen Freitag klafft eine Lücke auf der Meinungsseite der "Washington Post". Dort, wo die Kolumne des Journalisten Jamal Khashoggi stehen sollte, ist alles weiß. Über den beiden blanken Spalten prangen das Bild des Autors und eine Überschrift: "A missing voice" - eine "fehlende" oder eine "verschwundene" Stimme.
Zwei Tage später ist die Sorge groß, dass die Stimme von Jamal Khashoggi nie wieder zu hören sein wird. "Die erste Einschätzung der türkischen Polizei ist, dass Mr. Khashoggi ermordet worden ist im Konsulat Saudi-Arabiens in Istanbul." So zitiert die Nachrichtenagentur Reuters zwei nicht namentlich genannte türkische Beamte. "Wir glauben, dass der Mord vorsätzlich geschehen ist und die Leiche anschließend aus dem Konsulat gebracht wurde." Saudi-Arabien bestreitet die Vorwürfe.
Das Verschwinden Khashoggis ist ein mysteriöser Fall. Er wirft unzählige Fragen auf und birgt gewaltige politische Sprengkraft.
Khashoggi kam 1958 in Medina, im Westen Saudi Arabiens, zur Welt. Seine journalistische Karriere begann er in den 1980er Jahren. Seinen Durchbruch erlebte er mit seiner Berichterstattung über den Krieg Russlands gegen die Mudschaheddin in Afghanistan und den zweiten Golfkrieg. Khashoggi gelang es mehrmals, den früheren Al-Kaida-Chef Osama bin Laden zu interviewen.
In seiner Heimat Saudi-Arabien war Khashoggi als Experte gefragt, aber auch als Kritiker gefürchtet. Khashoggi arbeitete einerseits als Berater für Prinz Turki Al-Faisal. Als Chefredakteur der regierungsnahen Tageszeitung "Al-Watan" wurde er andererseits zwei Mal gefeuert, weil er die Grenzen des in Saudi-Arabien Sagbaren zu weit verschoben hatte.
Vor einem Jahr begab sich Khashoggi ins selbstgewählte Exil in die USA. Er fürchtete, in seiner alten Heimat für seine Berichterstattung eingesperrt zu werden. Bis zuletzt blieb er ein lautstarker Kritiker der saudischen Führung. Erst Mitte September forderte Khashoggi Kronprinz Mohammed bin Salman in der "Washington Post" dazu auf, dem Königreich seine "Würde" zurückzugeben und den "grausamen" Krieg im Jemen zu beenden.
"Haltlose Vorwürfe"
Freunde und Familie sahen Khashoggi zum letzten Mal am Dienstag. Mittags ging er in das saudische Konsulat in Istanbul. Khashoggi wollte seine Verlobte Hatice Cengiz heiraten und brauchte dafür offizielle Papiere. Nach Angaben von Turan Kislakci, einem Freund und Chef des Arabisch-Türkischen Medienverbands, ließ Khashoggi sich von saudischen Beamten zuvor freies Geleit garantieren. Khashoggi hatte Zweifel, wagte es dann aber doch. Seine Verlobte Cengiz begleitete ihn eigenen Angaben zufolge zum Konsulat. Der erfahrene Reporter gab ihr sein Mobiltelefon und wies sie an, die Polizei zu rufen, wenn er nicht wieder rauskommt. Das berichtet Cengiz. Vier Stunden verstrichen. Dann informierte Cengiz die türkischen Behörden.
Ankaras Sicherheitsapparat ermittelt seither. Die Nachrichtenagenturen Reuters und Anadolu berichten mit Verweis auf türkische Quellen, dass am Tag von Khashoggis Verschwinden 15 Saudis in die Türkei eingereist, ins Konsulat gegangen und am selben Tag wieder ausgereist sind. Haben sie etwas mit dem Verschwinden Khashoggis zu tun?
In der saudischen Botschaft ist von "haltlosen Vorwürfen" die Rede. Noch bevor Berichte über einen möglichen Mord die Runde machten, gab Kronprinz Mohammed bin Salman der Agentur Bloomberg ein denkwürdiges Interview: "Wir laden die türkische Regierung ein, hinzugehen und unser Anwesen zu durchsuchen", sagte er über das Konsulatsgebäude. "Wir haben nichts zu verbergen." Bin Salman sagt, Khashoggi sei nur "ein paar Minuten oder eine Stunde" im Botschaftsgebäude gewesen. Die Journalisten fragen, ob Khashoggi in Saudi-Arabien Strafen drohen. Salman antwortet: "Wir müssen zunächst wissen, wo Jamal ist." Die Reporter haken wiederholt nach und bekommen ähnlich ausweichende Antworten zu hören. "Wenn er sich in Saudi-Arabien befinden würde, wüsste ich das", sagt bin Salman zum Beispiel.
"Das Dreieck des Bösen"
Der Kronprinz Saudi-Arabiens gilt als Reformer, der für eine gewagte gesellschaftliche und politische Öffnung des Landes steht. Mit dieser Öffnung geht aber ein rigoroser Umgang mit unerwünschten Stimmen einher. Die saudischen Sicherheitskräfte nahmen unter seiner Regentschaft Hunderte Politiker, Unternehmer und Aktivisten fest. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt Saudi-Arabien auf Platz 169 von 180. Sollte nun auch Khashoggi dieser Politik zum Opfer gefallen sein, bedeutet dies für Kritiker des Kronprinzen, dass sie sich selbst im Ausland nicht mehr sicher fühlen können.
Auf diplomatischer Ebene dürfte der Fall die ohnehin beachtlichen Spannungen zwischen der Türkei und Saudi-Arabien erhöhen. Die verschärften sich bereits im vergangenen Jahr dramatisch, als Ankara seinem Partner Katar demonstrativ beistand. Eine ganze Reihe arabischer Nachbarn etablierte einen wirtschaftlichen und diplomatischen Boykott des reichen Emirats. Das türkische Parlament beschloss die Stationierung von zusätzlichen Truppen in Katar - im Rahmen eines Verteidigungsabkommens. Salman bezeichnete Katar, die Türkei und den benachbarten Iran als das "Dreieck des Bösen".
Fred Hiatt, zuständig für Leitartikel bei der "Washington Post", schrieb: "Wenn die Berichte über Jamal wahr sind, ist das ein monströser und unergründlicher Akt." Hiatt beschreibt Khashoggi als einen couragierten Journalisten, den die Liebe für seine Heimat antrieb und der feste Glaube an Menschenwürde und Freiheit. Hatice Cengiz hat die Hoffnung nicht aufgegeben, ihren Verlobten wiederzusehen. "Jamal ist nicht tot!", twitterte sie: "Ich glaube nicht, dass er ermordet wurde."
Quelle: ntv.de, mit rts