Der Kriegstag im Überblick Kreml-Truppen verdoppeln Raketenbeschuss – Hinweise auf verdeckte Einberufung in Belarus
30.06.2022, 20:45 Uhr
Hinter dem neuen Eisernen Vorhang: Russisch-belarussischer Kriegsrat in Minsk.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Die Russen verdoppeln den Beschuss auf ukrainische Ziele, ziehen sich aber von der Schlangeninsel zurück. In Belarus gibt es Hinweise auf eine verdeckte Mobilisierung von Wehrdienstleistenden. Lawrow hört bereits einen neuen Eisernen Vorhang herabsausen und die NATO stockt ihren Rüstungsetat kräftig auf. Der 126. Kriegstag im Überblick.
Ukrainische Truppen in Lyssytschansk umzingelt
Im ostukrainischen Gebiet Luhansk sind die regierungstreuen Truppen in Lyssytschansk nach eigenen Angaben akut von einer Einschließung bedroht. Die knapp sieben Kilometer westlich der Stadt gelegene Raffinerie sei umkämpft, teilte der Generalstab in Kiew am Abend mit. Die im Süden stehenden russischen Truppen sind demnach nach Norden vorgerückt. Auch direkt an der westlichen und der südlichen Stadtgrenze werde bereits gekämpft. In russischen Medien wurde die Raffinerie bereits als komplett erobert dargestellt. Lyssytschansk ist der letzte größere Ort im Luhansker Gebiet unter ukrainischer Kontrolle.
Schweres Feuer mit Sowjet-Geschossen
Laut dem ukrainischen Militär verdoppelte Russland die Zahl seiner Raketenangriffe in den vergangenen zwei Wochen. Dabei setze das russische Militär in über der Hälfte der Fälle ungenaue Geschosse aus Sowjetzeiten ein, sagte Brigadegeneral Oleksii Hromow. "Der Feind nimmt weiterhin Militäreinrichtungen, kritische Infrastruktur sowie Industrie und Transportnetzwerke ins Visier." Wegen der Ungenauigkeit der Angriffe "erleidet die Zivilbevölkerung signifikante Verluste". Hromow zufolge wurden in der zweiten Juni-Hälfte 202 Raketen auf die Ukraine abgefeuert, ein Anstieg um 120 verglichen mit den ersten zwei Wochen des Monats.
Schlangeninsel: Kiew meldet Rückeroberung
Die russische Armee meldete, sie habe die ukrainische Schlangeninsel verlassen. Die dort stationierten Soldaten seien als eine "Geste des guten Willens" abgezogen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Der Schritt solle der Ukraine die Ausfuhr von Getreide ermöglichen. Zuvor hatte die ukrainische Armee auf Facebook mitgeteilt, die Insel im Schwarzen Meer angegriffen und erobert zu haben. Der ukrainische Armeechef Walerij Saluschny lobte die eigenen Truppen im Onlinedienst Telegram für die Einnahme eines "strategisch wichtigen Teils unseres Territoriums". Die russischen Soldaten hätten die Schlangeninsel verlassen, "da sie dem Feuer unserer Artillerie, Raketen und Luftangriffe nicht standhalten konnten".
Die Schlangeninsel gilt seit Beginn des russischen Angriffskriegs als Symbol des ukrainischen Widerstands. Die Besatzung des später gesunkenen russischen Kriegsschiffes "Moskwa" hatte die auf der Insel stationierten ukrainischen Grenzschützer am ersten Tag der Invasion aufgefordert, sich zu ergeben. "F...k dich, russisches Kriegsschiff!", antwortete darauf ein Grenzschützer über Funk.
Hinweise auf Mobilmachung in Belarus
Belarus verschickt nach Berichten unabhängiger Medien verstärkt Einberufungsbescheide. Der ukrainische Generalstab sprach von einer "verdeckten Mobilisierung". Die oppositionelle belarussische Onlinezeitung Zerkalo schrieb, seit Tagen hätten Leser aus dem Gebiet Gomel im Süden des Landes an der Grenze zur Ukraine berichtet, es seien vielfach Einberufungsbefehle verschickt worden. Die Aufforderung, sich bei der Truppe zu melden, seien auch an Personen gegangen, die zuvor als wehruntauglich eingestuft worden seien, schreibt das Portal weiter. Gründe für die Anordnung seien nicht angegeben worden. Es sei aber mit Strafen gedroht worden, sollte die Vorladung ignoriert werden.
Lawrow diagnostiziert neuen Eisernen Vorhang
Zwischen Russland und dem Westen senkt sich nach Einschätzung des russischen Außenministers Sergej Lawrow ein neuer "Eiserner Vorhang". "Was den Eisernen Vorhang angeht - er senkt sich bereits", sagte Lawrow vor Journalisten in Minsk. "Dieser Prozess hat schon begonnen." Westliche Politiker sollten aufpassen, "dass sie sich nicht die Finger darin einklemmen". Der Europäischen Union warf der russische Außenminister vor, "keinerlei Interesse" für Russlands Haltung zu zeigen. Die Entscheidungen der EU würden "von Washington diktiert". Die Beschlüsse beim NATO-Gipfel in Madrid zeigten, dass die USA "alle Staaten ihrem Willen unterwerfen wollen".
Medwedew eifert über Sanktionen
Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, erklärte, dass Sanktionen unter bestimmten Umständen als ein Akt der Aggression und eine Berechtigung für einen Krieg angesehen werden könnten: "Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass solche feindseligen Maßnahmen unter bestimmten Umständen auch als ein Akt internationaler Aggression gewertet werden können. Und sogar als Casus Belli". Russland habe das Recht, sich zu verteidigen.
Putin gibt sich dialogbereit
Anders als seine Scharfmacher Lawrow und Medwedew setzte der russische Präsident Wladimir Putin auf versöhnliche Töne: Russland sei offen für einen Dialog über strategische Stabilität, eine Beschränkung von Atomwaffen und Rüstungskontrolle. Dies würde aber eine "sorgfältige gemeinsame Arbeit" erfordern und müsse darauf abzielen, eine Wiederholung dessen zu verhindern, "was heute im Donbass geschieht", sagte Putin auf einem Forum in Sankt Petersburg. Er bekräftigte seinen Vorwurf an die Ukraine von "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" an russisch-stämmigen und russisch-sprachigen Bewohnern in der östlichen Region Donbass. Unter anderem damit hat er das militärische Vorgehen wiederholt begründet.
US-Geheimdienst sieht schwarz
Laut US-Geheimdienst hegt Russland noch immer weitgehende Ambitionen für die Ukraine. US-Geheimdienstkoordinatorin, Avril Haines, erklärte, Putin habe sein Ziel, den größten Teil der Ukraine einzunehmen, nicht geändert. Die US-Geheimdienste skizzierten für die nahe Zukunft drei Szenarien: einen zermürbenden Konflikt, in dem Russland nur schrittweise Fortschritte, aber keinen Durchbruch erzielt, einen größeren russischen Durchbruch oder kleine Fortschritte der Ukraine in der Südukraine bei gleichzeitiger Stabilisierung der Frontlinie. "Kurz gesagt, das Bild bleibt ziemlich düster", sagte Haines. Auch das Institute for the Study of War rechnete nicht damit, dass Putin sich mit den bisherigen Gebietsgewinnen zufrieden gibt. Die russischen Streitkräfte würden weiterhin offensive Operationen nördlich von Charkiw durchführen. Dies deute darauf hin, dass der Kreml territoriale Ambitionen jenseits des Donbass habe.
NATO stockt Verteidigungsbudget auf
Die NATO-Staaten wollen bis Ende 2030 mehr als 20 Milliarden Euro zusätzlich für gemeinschaftliche Ausgaben bereitstellen. Eine beim Gipfeltreffen in Madrid getroffene Einigung sieht vor, die NATO-Budgets jährlich deutlich steigen zu lassen, wie mehrere Teilnehmer bestätigten. Mit den zusätzlichen Mitteln soll es möglich werden, mehr Geld in die Verlegung von Ausrüstung an die Ostflanke sowie in militärische Infrastruktur zu investieren. Zudem soll es zum Beispiel auch mehr Mittel für Übungen und Cybersicherheit sowie die Förderung von Partnerschaften mit befreundeten Drittstaaten geben. Den Angaben zufolge soll der zivile und der militärische Haushalt von 2023 an jährlich um je 10 Prozent erhöht werden, der für das Sicherheits- und Investitionsprogramm NSIP sogar um 25 Prozent.
Deutsche Prominente werben für Waffenstillstand
In der "Zeit" forderten Prominente, Publizisten und Wissenschaftler westliche Regierungen dazu auf, alles daranzusetzen, dass Russland und die Ukraine "zu einer zeitnahen Verhandlungslösung kommen". Es brauche eine "diplomatische Großoffensive". Die Fortführung des Krieges verursache "massive humanitäre, ökonomische und ökologische Notlagen auf der ganzen Welt".
Botschafter Melnyk verbittet sich Ratschläge
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, attackierte die Verfasser auf Twitter. "Nicht schon wieder, what a bunch auf pseudo-intellectual loosers", schreibt er auf Twitter. "Ihr alle Varwicks, Vads, Kluges, Prechts, Yogeshwars, Zehs & Co. sollt euch endlich mit euren defätistischen 'Ratschlägen' zum Teufel scheren."
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Quelle: ntv.de, mau/dpa/rts