Politik

Streit um Corona-Maßnahmen Kritik ja, aber bitte mit Anstand

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Die Grundrechte sind derzeit eingeschränkt, nicht aber die Debatte über diese Einschränkung.

(Foto: picture alliance/dpa)

Seit einigen Tagen verschärft sich die Kritik an den Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Corona-Epidemie. Doch die Befürworter von Lockerungen setzen nicht allein auf die Kraft des besseren Arguments. Einige schmähen auch Regierende und Wissenschaftler. Das aber nützt niemanden.

Der Stern am Himmel der deutschen Virologie macht inmitten dieser für ihn arbeitsreichen Pandemie eine zusätzliche unangenehme Erfahrung: Christian Drosten wird in den sozialen Medien und auch in persönlichen Zuschriften beleidigt und bedroht. Das ist in Zeiten sozialer Medien das gemeine Schicksal öffentlicher Personen, zu der Drosten binnen weniger Wochen geworden ist. Auf Twitter, Facebook und Co reden alle mit. Und wie im normalen Leben reicht eine Minderheit besonders lautstarker Bösmeinender und Frustrierter, um jede gemeinschaftliche Erfahrung zu vergiften.

Politiker und Journalisten wissen darum. Sie sind selbst oft das Ziel von Verunglimpfungen und Bedrohungen. Dennoch mehrt sich in beiden Zünften die Zahl derjenigen, die als besonders scharfe Kritiker der Regierungspolitik auftreten. Das ist immer dann begrüßenswert, wenn sich die Kritiker ihrer Verantwortung bewusst sind in einer Zeit, in der es wörtlich um Leben und Tod geht.

Das ist kein normaler Politikstreit

Wer aber meint, er könne polemisieren, zuspitzen und verdrehen, als ginge es in der Debatte über die Corona-Maßnahmen um Lappalien wie etwa eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, wird der Ernsthaftigkeit der Lage nicht gerecht. In einer gesellschaftlich derart angespannten Situation ist es schlicht unredlich, den Regierungspolitikern in Bund und Ländern sowie den sie beratenden Experten, Anstand und Vernunft abzusprechen.

Seit einigen Tagen verfestigt sich nämlich eine solche Erzählung: Die Bundesregierung und die ihr hörigen Länderregierungen brächten mit Unterstützung der großen Medien leichtfertig das Wirtschafts- und Sozialleben zum Erliegen, weil sie sich ohne Not dubiosen Experten ausgeliefert hätten.

Das ist die Essenz der jüngsten Beiträge von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, vom FDP-Vorsitzenden Christian Lindner und von "Bild"-Chef Julian Reichelt. Ein wenig stieß auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in dieses Horn. Hinzukommt die Fundamentalkritik der AfD, die damit zurück in die gewohnte Rolle schlüpfte, den "Altparteien" stets das Schlechteste zu unterstellen.

Mehr Einigkeit als Zwist in Wissenschaft

Laschet beklagte bei "Anne Will", dass Virologen und Epidemiologen einander widersprechen und auch ihre Meinungen ändern. Aber was sollen sie sonst tun? Das Virus ist neu und komplex. Zusätzliche Erkenntnisse verändern das Gesamtbild. In anderen Ländern ist die Lage bestenfalls gleich. Die Wissenschaftsberatung der Politik in Deutschland könnte wahrlich schlechter sein.

Kanzler-Aspirant Laschet versuchte dennoch vor einem Millionenpublikum, die Verantwortung für die fraglos schwierigen Regierungsentscheidungen auf die Experten abzuwälzen. Keine starke Geste. Dabei erweckte er den falschen Eindruck, es gäbe grundsätzliche Meinungsunterschiede zum Lockdown der vergangenen Wochen. Dabei unterstützen fast alle Mediziner prinzipiell diese Maßnahmen. Ihre Wirksamkeit zeigt sich in den Infektionsverläufen, auch wenn viele Menschen schon zuvor auf Distanz zueinander gegangen sind und so die Infektionswelle gebremst haben.

"Bild"-Chefredakteur Reichelt schaffte es in seinem Kommentar am Montag gar, mit einer ähnlichen Argumentation wie Laschet der Bundesregierung vorzuwerfen, sie fahre einen Schlingerkurs und sei starrsinnig. Ja, was denn nun? Wenn der Fehler darin bestehen soll, auf sich verändernde Einschätzungen der immer gleichen Experten zu hören, muss man Alternativen benennen können. Auf wen genau soll das Kanzleramt hören, wenn nicht auf den renommierten Drosten und das Robert-Koch-Institut? Es spricht für beide Ratgeber, das sie dem Bundeskanzleramt nicht nur bequeme Wahrheiten geliefert, sondern hier und da auch Kurswechsel empfohlen haben.

Richtige, aber wohlfeile Argumente

Reichelt und Lindner unterstellen zudem, die Regierung verfolge ihren Kurs in völliger Missachtung des immensen wirtschaftlichen Schadens, der entstanden ist. Das ist doppelt falsch. Zum einen, weil die Bundesregierung und die Länder in vollem Bewusstsein über die sich anbahnende Pleitewelle historisch beispiellose Hilfs- und Rettungspakete geschnürt haben. Zum anderen, weil die Unternehmen in Deutschland zu einem großen Teil wegen der verheerenden Corona-Lage in fast allen anderen Ländern der Welt ins Straucheln geraten - vollkommen unabhängig von der Situation in der Bundesrepublik.

Lindner und Schäuble verweisen zudem völlig zurecht darauf, dass nicht jedes Leben um jeden Preis gerettet werden könne. Ein wohlfeiles Argument, dem auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht widersprechen würde. Nur: Wie viele vorzeitige Todesfälle genau sind akzeptabel, um einen Wirtschaftskollaps zu vermeiden? Wer will auf Grundlage so dünner Informationen zur Pandemie-Dynamik eine solche Zahl festlegen? Die sich hier so mutig gebende Corona-Opposition jedenfalls macht es nicht. Und noch einmal zur Erinnerung: Bei zu vielen Schwererkrankten auf einmal kommt das Gesundheitssystem an seine Grenzen und dann sterben womöglich sehr viele Menschen, die sonst gerettet würden - auch die jungen Patienten ohne Vorerkrankung.

Die Debatte findet statt

Besonders bitter aber ist, dass einige dieser vermeintlichen Freigeister den Eindruck erwecken, eine Debatte über Angemessenheit und Notwendigkeit der Grundrechtseingriffe finde nicht statt. Diejenigen, die im demokratischen Wettstreit mangels überzeugender Argumente bislang unterlegen sind, schwadronieren vom Meinungskartell; Kritiker würden pauschal als Anhänger von Verschwörungstheorien ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Das ist so jämmerlich wie es den Tatsachen entbehrt. Dass Reichelt der Bundeskanzlerin nach ihrer diesbezüglich überdeutlichen Regierungserklärung weiterhin unterstellt, sie würde Diskussionen unterdrücken wollen, ist niederträchtig.

Alle größeren Medien befassen sich intensiv mit dieser Krise. Das gilt auch für ntv.de, die Nachrichtenseite mit der zweitgrößten Reichweite in Deutschland. Philosophen und Juristen kommen beim Thema Grundrechtseingriffe zu Wort. Die Wissensredakteure sprechen mit Forschern und Medizinern und überprüfen auch die Argumente skeptischer Wissenschaftler, deren Videos auf Youtube und Whatsapp kursieren. Äußerungen von Politikern aller Parteien werden wiedergegeben.

Auch im Bundestag sowie in den Landesparlamenten wird rege diskutiert. Es gibt genug zu besprechen, weil der aktuelle Kurs in Teilen tatsächlich nicht überzeugt. Unterschiedliche Regeln in den Bundesländern zu Abstandsgebot und Ladenöffnungen sowie Chaos bei der Maskenpflicht und der Schulpolitik singen ein Lied davon. All das darf und muss kritisiert werden. Schlüssige Konzepte für das Wiederhochfahren der Wirtschaft sind überfällig.

Deshalb braucht es selbstverständlich die kritischen Wortmeldungen von Laschet, Lindner und allen anderen, die ehrlich um das Wohl von Menschen und Wirtschaft bangen. Dennoch gilt: Wir kommen als Gesellschaft nur gemeinsam durch diese Krise. Wer aber den Verantwortlichen die Aufrichtigkeit ihres Bemühens abspricht, wenn er sich mit seiner Position nicht durchsetzen kann, lässt diesen Gemeinsinn missen - und ist womöglich fehl am Platz.

Quelle: ntv.de

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