Türken strafen Erdogan ab Kurdische HDP zieht in Parlament ein
07.06.2015, 22:51 Uhr
In Diyabakir brechen spontane Freudenfeiern aus, als die ersten Hochrechnungen bekannt werden.
(Foto: AP)
Erdogans Plan, sich von einer großen Mehrheit der AKP im türkischen Parlament eine neue Verfassung auf den Leib schneidern zu lassen, ist gescheitert. Vor allem die Kurden feiern das als Erfolg.
Es ist nicht weniger als ein politisches Erdbeben in der Türkei: Seit 2002 regiert die islamisch-konservative AKP mit absoluter Mehrheit. Ihr Mitbegründer, der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, legte in dieser Zeit einen zunehmend autoritären Herrschaftsstil an den Tag. Bei der Parlamentswahl haben die Wähler nun nicht nur die AKP abgestraft, sondern auch den Präsidenten.
Die AKP hat nach Auszählung fast aller Stimmen die absolute Mehrheit verloren. Die kleine pro-kurdische HDP hat die Pläne Erdogans auf absehbare Zeit durchkreuzt, zum uneingeschränkten Machthaber zu werden. Die AKP und ihr von Erdogan installierter Chef Ahmet Davutoglu stehen vor einem Scherbenhaufen. Die erfolgsverwöhnte Partei war 2002 aus dem Stand an die Macht gekommen. Seitdem konnte sie bei jeder Parlamentswahl mehr Stimmen verbuchen, 2011 kam sie noch auf fast 50 Prozent. Jetzt sind es noch etwas über 40 Prozent.
Die AKP muss nun versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden, oder einen Koalitionspartner zu finden. Sollte das nicht gelingen, kann Präsident Erdogan Neuwahlen ausrufen. Das Ziel, 60 Prozent der Sitze zu erobern und damit den Weg für eine Verfassungsreform und ein Präsidialsystem unter Erdogan zu ebnen, hat die AKP weit verfehlt.
Erdogan kontrolliert die AKP immer noch
Selbst früheren AKP-Anhängern war offenbar unwohl bei dem Gedanken, der AKP und Erdogan quasi einen Blankoscheck für das Präsidialsystem auszustellen. Weder die AKP noch Erdogan haben sich bislang die Mühe gemacht zu erklären, wie ein solches System denn eigentlich aussehen soll - und wieviel Macht der Präsident darin haben soll.
Das Wahlergebnis ist besonders für Erdogan eine Niederlage, der für eine Mehrheit von 400 Sitzen geworben hatte - jetzt wird die AKP nur rund 260 Abgeordnete im neuen Parlament stellen. Erdogan brachte sich mit vollem Elan in den Wahlkampf ein, obwohl der Präsident laut Verfassung neutral sein muss.
Bei fast jeder Gelegenheit griff Erdogan die HDP und ihren Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtas an. Der hatte sich zum Ziel gesetzt, eine Erdogan-"Diktatur" zu verhindern. Berühmt wurde seine 90-Sekunden-Rede im Parlament vom März, als er sagte: "Recep Tayyip Erdogan, solange es die HDP gibt, solange HDP-ler auf dieser Erde atmen, wirst Du nicht Präsident (in einem Präsidialsystem) werden."
Durch sein Eingreifen in den Wahlkampf hat Erdogan aus Sicht der Opposition gegen die Verfassung verstoßen. Die Verfassung verpflichtet den Präsidenten auch dazu, jede Verbindungen zu Parteien zu beenden. Dabei ist jedem klar, wer die AKP weiter kontrolliert. "Erdogan ist immer noch der Anführer", sagt ein 63-jähriger AKP-Anhänger namens Mehmet in Istanbul zu den Machtverhältnissen. "Die Partei folgt ihm."
Kurden feiern in Diyarbakir
Für AKP-Anhänger sind solche Oppositionsvorwürfe nebensächlich. Für sie zählen vor allem die unbestrittenen Erfolge der AKP-Regierung, wobei die Trennlinie zwischen Regierung und Staatsoberhaupt oft verschwimmt. "Ich kann jetzt sehr viel besser leben als früher, und das alles haben wir Erdogan und seiner Partei zu verdanken", sagt etwa der 24-Jährige Wähler Nurman in Istanbul. "Von den Erzählungen meiner Eltern weiß ich, dass man früher, vor der AKP, für Brot anstehen musste." Die 38-jährige Leyla Celik sagt: "Wir sehen den Erfolg, den Erdogan gebracht hat. Deshalb unterstützen wir das Präsidialsystem."
Aus diesem System dürfte nun auf absehbare Zeit nichts werden. Demirtas spricht am Abend in Istanbul von einem "überwältigenden Sieg". Und fügt hinzu: "In der Türkei sind die Diskussionen um das Präsidialsystem und die Diktatur beendet." Noch bevor das amtliche Endergebnis feststand, feierten die Menschen in der Kurden-Metropole Diyarbakir. Nach der beispiellosen Zitterpartie, ob die HDP über die magische Zehn-Prozent-Hürde kommt, brach sich die Euphorie Bahn. Kurden zündeten Feuerwerk. Sie skandierten "Wir sind die HDP, wir gehen ins Parlament".
Auch der 27-Jährige Kurde Nehat Aydin gehört zu den Feiernden in Diyarbakir, er sagt: "Ich glaube, dass Erdogan auf dem Weg nach draußen ist." Dabei dürfte zwar der Wunsch der Vater des Gedanken sein - Erdogan gibt nicht schnell auf, im Gegenteil. Aber beschädigt sind er und die AKP doch. Der regierungskritische Journalist Murat Yetkin sagt auf CNN Türk: "Das ist das Ende des Aufstiegs der AKP."
Quelle: ntv.de, mbo/dpa/AFP