"Das ist alles auf Kante genäht" Lauterbach macht sich Sorgen über gute Entwicklung
18.02.2022, 11:28 Uhr
Lauterbach fürchtet Profilierungsversuche in der Corona-Politik.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der Bundesgesundheitsminister wartet zum Ende der Woche mit guten Nachrichten auf, erkennt aber darin auch schon wieder drohendes Unheil: Sinkende Omikron-Zahlen könnten Länder und Opposition verführen, sich bei Lockerungen zu überbieten. Dabei werde die Corona-Krise noch Jahre andauern.
Ausgerechnet die Pressekonferenz mit den seltenen positiven Corona-Nachrichten verpasst Lothar Wieler. Dass dessen Abwesenheit Überlegungen zu einer möglichen Demission des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts befeuern könnte, ist auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bewusst. Gleich zu Beginn erklärt der Sozialdemokrat deshalb, dass Wieler wegen Krankheit verhindert sei und andernfalls jetzt neben ihm säße. Nun zu den guten Nachrichten: "Ich glaube, wir haben den Höhepunkt der Omikron-Welle überschritten", bekräftigt Lauterbach Aussagen aus Mitte der Woche.
Dass es gelungen sei, in den vergangenen Wochen die Sterbequote relativ niedrig zu halten, sei keine Selbstverständlichkeit bei einem Anteil von 12 Prozent Ungeimpften in der Bevölkerungsgruppe der über 59-Jährigen, sagt der Minister. Dies sei ein Erfolg der umfangreichen Corona-Maßnahmen, die nach Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz von Mittwoch weitgehend wegfallen werden. Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, sekundiert: "Es ist Licht am Ende des Tunnels."
"Noch nicht wirklich in sicheren Gewässern"
Deutschland liege mit 1400 Corona-Toten pro eine Million Einwohner unter dem EU-Durchschnitt von 2200 Toten pro einer Million Menschen. In Südkorea aber liege der Wert bei 140 Toten, rechnet Meyer-Hermann vor. Grund zum Jubeln sieht Lauterbach trotz Überschreitens des Omikron-Peaks nicht, zum einen wegen der verbleibenden Unsicherheiten angesichts der Omikron-Variante B.A.2, zum anderen, weil der Bundesgesundheitsminister einen Überbietungswettbewerb bei den Corona-Lockerungen im Land fürchtet.
"Wir sind noch nicht wirklich in sicheren Gewässern", sagt Lauterbach mit Blick auf die B.A.2-Variante, deren Anteil am Infektionsgeschehen inzwischen bei 15 Prozent liege, und die sich in Tierstudien als ansteckender und aggressiver gezeigt habe. "Wir sind in einer vulnerablen Phase, dass ein Wiederanstieg der Fallzahlen zu diesem Zeitpunkt nicht sicher ausgeschlossen werden kann." Zudem stimmt Lauterbach trotz sinkender Neuansteckungszahlen auf mehr Hospitalisierungen und Corona-Tote ein, weil Omikron erst jetzt in der Bevölkerungsgruppe der Alten durchschlage und schwere Verläufe zeitversetzt in den Kliniken auflaufen.
Furcht vor Profilierungsversuchen
Entsprechend groß ist die Sorge, dass die Lockerungsbeschlüsse vom Mittwoch und der weitgehende Wegfall von Corona-Maßnahmen in anderen EU-Ländern die Dynamik in Deutschland beschleunigen. Lauterbach appelliert daher an die Ministerpräsidenten, "nicht über beschlossene Lockerungen hinauszugehen". Niemand solle versuchen, sich mit Lockerungen zu profilieren. "Das ist alles auf Kante genäht", sagt Lauterbach über die MPK-Beschlüsse. Der Verweis auf andere Länder wie Dänemark sei irreführend, weil Deutschland drei bis vier Mal so viele Ungeimpfte habe.
Erneut unterstützt Meyer-Hermann den Minister: "Wir sind in einer Situation, wo man versucht, einen Rohrbruch zu kontrollieren. Wir halten die Hand drauf, es ist natürlich nicht so eine gute Idee, die Hand wegzunehmen, bevor man den Haupthahn zugedreht hat." Die breite Infektion mit dem Omikron-Erreger sorge nicht für eine Grundimmunität gegen andere Variationen. "Das wird auch die Todesrate hochziehen", sagt Meyer-Hermann mit Blick darauf, dass Ungeimpfte und Ungeimpfte mit Omikron-Genesung wieder voll am öffentlichen Leben teilhaben sollen.
Auch langfristig sieht Lauterbach keine Rückkehr zur Normalität kommen. "Wenn ich ehrlich sein soll, ist es so, dass ich davon ausgehe, dass wir noch sehr lange mit der Pandemie zu tun haben", sagt Lauterbach. Er denke eher "in einem Zeitraum von zehn Jahren." Mindestens zwei Prozent der Bevölkerung blieben trotz Impfung dauerhaft gefährdet wegen ihrer Vorerkrankungen. Immerhin an diesem Punkt kann Meyer-Hermann mit einer optimistischeren Einschätzung Lauterbach leicht widersprechen: Weil Antikörper gegen das allen Corona-Varianten gemeine Spike-Protein wirkten, bleibe eine Grundschutzwirkung wohl auch in Zukunft aufrechterhalten. Diese Einschätzung bleibe allerdings "total spekulativ".
Hauptsache Impfpflicht
Einigkeit herrscht zwischen beiden, dass eine möglichst hohe Impfquote angestrebt werden müsse. Trotz sinkender Erfolgsaussichten wirbt Lauterbach erneut für den von ihm unterstützten Gruppenantrag im Bundestag für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren. Wer die Impfpflicht aus der Opposition heraus torpediere, um der Ampelkoalition zu schaden, ziele auf kurzfristige Geländegewinne. "Das kann nicht richtig sein", sagt Lauterbach.
Der vom FDP-Politiker Andrew Ullmann federführend ausgearbeitete Antrag auf eine Impfpflicht ab 50 Jahren hat im Vergleich eher Chancen auf eine Mehrheit im Bundestag, auch wenn das vonseiten der SPD bisher nicht öffentlich eingeräumt wird. Auch dieser sei "ein vornehmer Antrag", sagt Lauterbach nun. Rhetorisch geht er erkennbar zu auf die Ullmann-Initiative, weil ihm eine abgestufte Impfpflicht noch immer lieber ist als gar keine. Weil die Entscheidung frühestens Ende März fällt, wird Lauterbach noch oft hierüber sprechen können - dann auch wieder mit Lothar Wieler an seiner Seite.
Quelle: ntv.de