Politik

Debatte um Impfpflicht "Macron behandelt die Franzosen wie Kinder"

"Macron spaltet immer, das ist seine Persönlichkeit", sagt Elisa Goudin-Steinmann.

"Macron spaltet immer, das ist seine Persönlichkeit", sagt Elisa Goudin-Steinmann.

(Foto: picture alliance/dpa/AP)

In der Pandemie greift Frankreichs Präsident Macron stärker durch, als man es von deutschen Politikern kennt. So gibt es etwa eine Impfpflicht. Im Interview sagt die Sorbonne-Professorin und Deutschland-Expertin Goudin-Steinmann, was viele Franzosen dennoch stört und wie sie die Lage in Deutschland sehen.

In Deutschland erreichen die Infektionszahlen täglich neue Rekorde, in Frankreich sieht die Lage vergleichsweise gut aus. Dort hat Präsident Emmanuel Macron eine Impfpflicht für Pflegepersonal erlassen - trotz wochenlanger Proteste trat diese vor zwei Monaten in Kraft. Der auch in Frankreich befürchtete Exodus des Pflegepersonals blieb klein. In Deutschland wäre eine Impfpflicht ebenfalls möglich. Der Gesundheitsminister und die Länder im Bundesrat könnten sie gemeinsam beschließen. Noch ist nichts in diese Richtung passiert, obwohl ein Großteil der Menschen eine Impfpflicht für Pflegekräfte befürwortet. Im Interview mit ntv.de sagt die Sorbonne-Historikerin und Expertin für deutsch-französische Beziehungen, Elisa Goudin-Steinmann, was viele Franzosen an Macrons Regierungsstil stört und wie die Franzosen auf die Lage in Deutschland schauen.

ntv.de: Frau Goudin-Steinmann, wenn sie jetzt nach Deutschland schauen, denken Sie dann: Die spinnen die Deutschen, warum führen sie die Impfpflicht für Pflegekräfte nicht ein?

Die war auch in Frankreich sehr umstritten. Ich kenne eine Krankenschwester, die nicht grundsätzlich gegen eine Impfung war, aber sie war so wütend über die Art und Weise, wie die Regierung diese Krise gehandhabt hat, dass sie gesagt hat: Da mache ich nicht mehr mit, das ist zu viel, dass es jetzt eine Pflicht geben soll, als wären wir Kinder. Es war mehr eine Reaktion gegen die Regierung als eine Angst vor der Impfung. Das ist relativ verbreitet.

Das klingt typisch französisch. Es gab ja auch wochenlange Proteste. Ist das repräsentativ?

Man sagt: Der Staat hat mir das nicht vorzuschreiben, ich will nicht mehr wie ein Kind behandelt werden. In all seinen Reden spielt Emmanuel Macron auf Louis Pasteur und die Wissenschaft an, als wären die Argumente der Gegner seiner Politik irrational. Er versucht, die Gegner seiner Politik zu stigmatisieren. Es war für Pflegekräfte, die erschöpft und unterbezahlt sind, wirklich schwierig, das Gefühl zu haben, infantilisiert zu werden. Ich glaube in Deutschland war das viel weniger der Fall. Dort gab es mehr Vertrauen. Angela Merkel hat in ihren Reden nie gesagt, die Bevölkerung ist zu viel draußen, jetzt muss ich härtere Maßnahmen ergreifen. So wie Macron das ständig tut, als wäre es die Schuld der Bürgerinnen und Bürger.

Merkel redet viel weniger als Macron. Nutzt sich Macron dabei ab oder ist es nicht auch richtig, dass der Präsident darum kämpft, dass die Leute sich impfen lassen?

Es ist natürlich seine Rolle, die Franzosen davon zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Er denkt natürlich auch an seine Wiederwahl, das ist ganz normal und das kann man ihm natürlich nicht vorwerfen. Aber wir haben oft den Eindruck, dass kein Vertrauen da ist. Die Franzosen werden wahrscheinlich versuchen, die Regeln nicht zu respektieren und viel zu viel nach draußen zu gehen. Ich habe diesen Eindruck und vielen meiner Kollegen geht es genauso: Dieser Eindruck, wie Kinder behandelt zu werden. Und er sagt nur, wir sind das Land von Pasteur und der Wissenschaft, ja natürlich sind wir das.

Was sollte er stattdessen sagen?

Er könnte vielleicht mehr an den Bürgersinn appellieren. Er könnte sagen, man solle sich aus Bürgersinn impfen lassen, damit wir kollektiv eine Lösung finden. Er tut so, als ob die Argumente der Gegner irrational wären. Ich glaube, er versucht, sie zu diskreditieren, das ist seine Strategie. Es wäre besser, die Gegner ernst zu nehmen und zu fragen, was sie als Lösung vorzuschlagen haben. Dann würde sich zeigen, dass sie nichts vorzuschlagen haben und die Impfung der einzige Weg aus der Pandemie ist. Ich fände es viel besser, von Bürgersinn zu sprechen, als die Gegner zu diskreditieren und sie nicht ernst zu nehmen. Insbesondere in der heutigen Situation, in der die Pflegepersonen im Krankenhaus sehr erschöpft sind. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass sie jetzt irrational reagieren und sich nicht impfen lassen.

Aus Trotz?

Ja fast.

Für Pflegekräfte gibt es die Impfpflicht seit September. Gibt es Erfahrungswerte, wie das durchgesetzt wurde?

Ich kenne ein Beispiel. Die Ärztin hier an der Sorbonne Nouvelle wollte sich nicht impfen lassen und arbeitet nun seit September nicht mehr. Sie wurde suspendiert und nicht ersetzt. Es gibt hier jetzt keinen Arzt mehr für das Personal. Es gibt viele solcher Beispiele. Das erklärt auch, warum es heute weniger Betten in Krankenhäusern gibt als im März 2020. Für die fünfte Welle könnte das sehr problematisch werden. Ich kenne ein Krankenhaus in der Nähe, wo man zehn Betten geschlossen hat. Das ist natürlich auch darauf zurückzuführen, dass einige Pflegekräfte in den letzten Wochen aufgehört haben zu arbeiten, obwohl sie geimpft waren, einfach nur weil sie völlig erschöpft waren und keine Verbesserung der Situation in Sicht war. Das ist dramatisch.

In Deutschland gibt es immer die Befürchtung, dass man die Gesellschaft nicht spalten will. Gibt es das in Frankreich auch?

Ja, auf jeden Fall. Macron spaltet aber sowieso, das ist seine Persönlichkeit. Er steht nicht so sehr für Konsens und Dialog, sondern er entscheidet und handelt und wenn es dann Spaltungen gibt, kümmert er sich genug nicht darum. Aber das ist das Problem. Die Menschen, die sich nicht impfen lassen, sind auch die ärmeren Menschen in den Banlieues, hier zum Beispiel in der Umgebung von Paris, weil sie nicht genug informiert sind, weil sie den Eindruck haben, dass er sich nicht um sie kümmert. Dass er immer handelt, aber nie so richtig versucht, mit den Franzosen ins Gespräch zu kommen oder sie zu verstehen und sie dann zu informieren und zu überzeugen.

Was sagen denn die Impfgegner? In Deutschland werden ja oft gesundheitliche Bedenken angeführt.

Das gibt es in Frankreich auch, aber ich glaube, die spielen keine entscheidende Rolle. Es ist mehr eine Reaktion auf das Fehlen von Dialog und die Tatsache, dass die Pflegekräfte immer noch so unterbezahlt sind. Das ist für viele ein Problem. Macron hat auch die Reichensteuer abgeschafft und die Pflegenden sagen, dass jetzt kein Geld mehr für die Krankenhäuser da sei. Darauf reagieren sie und sagen: Ohne mich, jetzt mache ich nicht mehr mit. Sie lassen sich nicht impfen. Selbst wenn es gefährlich ist.

Eben, man setzt sich ja selbst einer großen Gefahr aus.

Ja, und die anderen auch. Ich finde die Situation sehr ernst, was diese Spaltung betrifft. Das ist gar nicht neu, das hatten wir schon bei Sarkozy. Ich glaube, bei Angela Merkel ist das viel weniger der Fall. Sie hat manches Mal ihre Meinung geändert, das hat Macron fast nie gemacht. Er will immer das Bild vermitteln: Ich bin derjenige, der handelt, der Entscheidungen trifft, ich zeige den Weg.

Das finden wir gerade ganz spannend, weil das bei uns kaum noch jemand zu machen scheint.

Das hat Vor- und Nachteile! Was Deutschland betrifft, ist es auch darauf zurückzuführen, dass alle auf die neue Regierung warten, während in Frankreich die Wahlkampagne schon begonnen hat. Macron muss aus diesem Grund beweisen, dass er unentbehrlich ist.

Wie wird in Frankreich die hohe Inzidenz in Deutschland wahrgenommen?

Elisa Goudin-Steinmann ist Dozentin an der Université Sorbonne Nouvelle in Paris. Sie ist Expertin für deutsch-franzsösische Beziehungen.

Elisa Goudin-Steinmann ist Dozentin an der Université Sorbonne Nouvelle in Paris. Sie ist Expertin für deutsch-franzsösische Beziehungen.

Das ist eine große Überraschung. Deutschland war immer das Land, das die Gesundheitskrise besser als die anderen gemeistert hat. Man dachte: Die wissen besser, was zu tun ist, und alle französischen Medien versuchten, diesen Erfolg zu erklären. Man behauptete zum Beispiel oft, das sei auf die Tatsache zurückzuführen, dass Deutschland im Gegensatz zu Frankreich ein Bundesstaat ist. Auf jeden Fall war die Bundesrepublik ein Vorbild. Nun heißt es: Wenn nicht einmal die Deutschen wissen, was zu tun ist, zeigt das, dass es nicht die eine Strategie gibt, die auf jeden Fall funktioniert. In Frankreich sieht es zwar besser aus, allerdings wird viel weniger getestet. Wenn man mehr testet, erhöhen sich auch die Zahlen automatisch. Aber es stimmt trotzdem: Die Situation ist ein bisschen besser. Aber ich fürchte, sie wird sich auch hier in den kommenden Wochen verschlechtern.

Warum?

Weil es viel weniger Betten in den Krankenhäusern gibt als im März 2020. Einige Pflegekräfte haben aufgehört, weil sie erschöpft waren. Oder sie sind suspendiert worden, weil sie nicht geimpft waren. Das heißt, es gibt noch weniger Pflegekräfte. Das betrifft weniger die Ärzte als die Krankenschwestern, vor allem auf den Intensivstationen. Dort sind die Pflegepersonen erschöpft und immer noch unterbezahlt. Da hat die Regierung nichts gemacht, um das zu verhindern.

Sehen Sie auch kulturelle Unterschiede im Umgang mit der Corona-Krise?

Vielleicht allgemein, wie man in Frankreich mit Regeln umgeht. Man akzeptiert die Autorität, aber dann versucht man, die Regeln trotzdem nicht so ganz einzuhalten. Das ist typisch französisch. Während man in Deutschland gegen die Autorität ist, sich aber an die Regeln hält. Das sieht man schon in der Schule. Wenn der Lehrer fragt, akzeptieren wir die Autorität, versuchen aber trotzdem, es etwas anders zu machen. Das klingt sehr paradox. Vielleicht denkt man, wenn alle anderen sich impfen lassen, kann ich davon profitieren, und lässt sich selbst nicht impfen. Das ist für mich auch sehr französisch. Nicht alle sind so, ich selbst bin natürlich geimpft. Aber ich habe oft diesen Gegensatz zwischen Autorität und Regeln festgestellt.

Mit Elisa Goudin-Steinmann sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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