Politik

Carola Rackete im Interview "Meine Schwester arbeitet in der Automobilindustrie"

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"Die klassische linke Politik hat die Arbeiter:innenschaft im Blick. Und die ist heute zum großen Teil migrantisch", sagt Carola Rackete.

"Die klassische linke Politik hat die Arbeiter:innenschaft im Blick. Und die ist heute zum großen Teil migrantisch", sagt Carola Rackete.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Linke steht vor der Spaltung, da ihre frühere Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht wahrscheinlich eine eigene Partei gründet. Einige Parteigenossen werfen ihr vor, sich inhaltlich der AfD anzunähern, etwa weil sie eine Begrenzung der Migration in die EU fordert. Mit der Nominierung von Carola Rackete zur Spitzenkandidatin für die Europawahl 2024 setzt die Linke ein Zeichen gegen Wagenknecht. Rackete wurde als Seenotretterin bekannt, als sie trotz des Verbots italienischer Behörden im Juni 2019 mit 53 Flüchtlingen an Bord der "Sea Watch" die Insel Lampedusa anlief. Die Klima- und Flüchtlingsaktivistin will trotz ihrer Kandidatur parteilos bleiben. Rackete fordert, dass Klimabewegungen mit Mitarbeitern der Auto- und Energieindustrie nach Lösungen suchen sollten. Zudem wirbt sie für kostenlosen ÖPNV und ein "Spritfresser"-Verbot.

ntv.de: Als Kapitänin und Seenotretterin haben Sie die Weltmeere bereist, als Ökologin nahmen Sie an mehreren Polarexpeditionen teil. Was bedeutet für Sie die Aussicht auf den Einzug in ein Brüsseler Büro nach der Europawahl?

Carola Rackete: Es wird eine Umstellung. Für mich und mein Team wird dabei wichtig sein, dass wir Austausch mit der Zivilgesellschaft haben, insbesondere mit der Klimagerechtigkeitsbewegung. Wir sehen uns als Schnittstelle. Wir wollen vermitteln, was im Parlament geschieht, erklären, wie weitreichend das ist. Auch weil viele Leute das nicht mitbekommen. Umgekehrt wollen wir die Stimmen der Zivilgesellschaft im Parlament vertreten. Das heißt, wir wollen uns nicht im Büro in Brüssel einschließen, sondern den Kontakt zu den Menschen halten.

Der Vorstand der Linken setzt mit Ihrer Kandidatur ein Signal gegen ihre frühere Fraktionschefin Sahra Wagenknecht. Parteiinterne Unterstützer Wagenknechts gingen deshalb auf die Barrikaden, Alexander Ulrich nannte Sie gar einen "Wählerschreck". Haben Sie mit so viel Gegenwind gerechnet?

Ich nehme das nicht persönlich. Das Programm der Linken ist klar. Sie positioniert sich darin für das Asylrecht, steht für Klimaschutz, Klimagerechtigkeit und gerechte Verteilung der Kosten. Es gibt einzelne Personen, die medial sichtbar sind und etwas Anderes sagen. Vor der letzten Bundestagswahl habe ich gehört, dass es Menschen mit migrantischem Hintergrund wegen prominenten Personen in der Partei unmöglich fanden, die Linke zu wählen. Also muss das, was im Programm steht, sichtbarer werden als die lauten Einzelmeinungen.

Viele Migranten können nicht wählen, weil sie keinen deutschen Pass haben. Und ein Blick auf die Umfragen verrät, dass die AfD viele Leute anspricht. Glauben Sie, dass Sie dennoch Wähler gewinnen können, wenn Sie sich für Migranten einsetzen?

Die klassische linke Politik hat die Arbeiter:innenschaft im Blick. Und die ist heute zum großen Teil migrantisch. Eine linke Partei muss sich dann nicht nur mit der Arbeitssituation dieser Menschen auseinandersetzen, sondern auch mit den anderen Formen von Ausgrenzung, die diese im Alltag erleben. Ich schließe mich der Forderung der Linken an, das Wahlrecht auszuweiten. 14 Prozent der migrantischen Erwachsenen durften bei der letzten Bundestagswahl nicht wählen. Wir fordern, dass Menschen sich in der Demokratie engagieren, aber das können sie so nicht. Man muss die Gesetzeslage an die Realität anpassen, in der es normal ist, dass Leute einwandern.

Wagenknecht fordert im Gegensatz zu Ihnen eine starke Begrenzung der Migration. Glauben Sie, dass Ihre Unterstützer Mitgefühl mit Migranten hätten, obwohl sie selbst die Auswirkungen der hohen Inflation und schwächelnden Wirtschaft spüren?

Für mich ist wichtig, dass wir Menschen, die prekär beschäftigt sind oder die keine Arbeit finden können, nicht aufgrund ihrer Herkunft spalten, sondern dass wir eine Umverteilungsfrage von oben nach unten stellen. Da dürfen wir nicht die einen Ärmeren gegen die anderen Ärmeren ausspielen. Wir müssen eine Reichen- und Millionärssteuer einführen und dafür sorgen, dass Kapital und Einkommen fairer versteuert werden. Ein Mensch mit normalem Einkommen zahlt relativ mehr Steuern als ein Kapitalanleger. Wer schon reich ist, wird immer reicher, obwohl er dafür nicht arbeitet. Die Steuerflucht der Großkonzerne aus der EU ist auch ein Riesenthema.

Ein potenzieller Wagenknecht-Wähler würde vielleicht sagen: Umverteilung finde ich gut, aber ich möchte nicht mit den Leuten teilen, die erst seit einigen Jahren in Deutschland leben. Was sagen Sie ihm?

Ich würde ihm sagen, dass es für alle reicht, wenn die Umverteilung funktioniert. Darauf sollten wir uns konzentrieren. Das Geld für den ökologischen Umbau müssen wir von Großkonzernen und den reichsten zehn Prozent der Menschen nehmen, die massive Luxusemissionen verursachen. Und ich würde ihm sagen, dass wir als Linke einen gesellschaftlichen Grundkonsens haben, dass wir uns nach dem Zweiten Weltkrieg auf Antifaschismus geeinigt haben. Dass wir viele Statuten zu Menschenrechten geschaffen haben, insbesondere, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

Was meinen Sie mit Luxusemissionen?

Wir müssen bei Mobilität umdenken. Der ÖPNV müsste kostenlos sein und ausgebaut werden. Ich wohne fast mein ganzes Leben auf dem Land. Ich kenne das Problem, dass man ohne Auto fast nirgendwo hinkommt. Aber dann ist die Frage: Habe ich einen Kleinwagen, weil ich Mobilität brauche, oder kaufe ich mir einen SUV? Ganz ehrlich: Einen SUV braucht in Deutschland fast niemand. Es sei denn, jemand ist Landwirt und braucht einen Geländewagen. Abgesehen davon ist das ein Luxusartikel, der massive Emissionen verursacht und wahnsinnig gefährlich ist, wenn wir die Unfallstatistiken anschauen.

Setzen Sie auf Verbote, obwohl das unpopulär ist, wie zuletzt beim Heizungsgesetz der Bundesregierung klar wurde?

Es braucht an manchen Stellen Verbote. Wir brauchen ein Verbot der Neuzulassung von Spritfressern, denn das ist Luxus, kein Bedürfnis nach Mobilität. Wir sind am Anfang der Klimakrise. Mit freiwilligen Programmen kommen wir nicht weiter. Wenn wir das 1,5-Grad-Ziel einhalten wollen, muss es eine Vorgabe für jeden EU-Mitgliedsstaat geben, wie viel er noch ausstoßen darf. Das heißt nicht, dass die Leute, die am wenigsten haben, Emissionen einsparen sollen. Wenn wir einsparen, dann bei den Menschen, die durch ihren Luxuskonsum am meisten emittieren. Es gibt zum Beispiel Leute, die für einen Tag nach Barcelona zum Shoppen fliegen. Das können wir uns nicht erlauben.

Wie wollen Sie die Leute davon abhalten, für einen Tag nach Barcelona zu fliegen?

Langsam verändert sich das Verständnis der Menschen dafür, dass wir uns das ökologisch nicht leisten können. Aber das ist nur ein kleiner Punkt. Ein Problem ist auch, dass Fluggesellschaften bislang keine Kerosinsteuer zahlen. Deshalb ist Fliegen häufig günstiger als Bahnfahren. Es braucht massive Investitionen in den Schienenverkehr. Das ist nicht einfach, da wir seit 30 Jahren eine Unterfinanzierung dieser Infrastruktur haben. Klimaschädlichere Verkehrsmittel wie das Auto und das Flugzeug werden hingegen gefördert, zum Beispiel durch das Dienstwagenprivileg.

Wagenknecht unterstellt den Klimaaktivisten Snobismus. Auch Sie kritisieren, dass Klimabewegungen ärmere Schichten oft ausschließen. Was wollen Sie dagegen tun?

Projekte sollten sowohl das Soziale als auch das Ökologische nach vorne stellen. Beim Thema Verkehr war das Null-Euro-Ticket ein gutes Beispiel. Ein weiteres ist die Kampagne "Wir fahren zusammen", ein Bündnis von Gewerkschafter:innen im ÖPNV-Bereich und Menschen aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, die sagen, wenn wir mehr ÖPNV wollen, dann müssen auch die Arbeitsbedingungen attraktiver werden. In Schottland gibt es Kooperationen von Umweltverbänden und Leuten, die in der Öl- und Gasindustrie arbeiten. Dabei zeigt sich, dass die Menschen, die dort beschäftigt sind, bereit sind, im Bereich der Erneuerbaren Energien tätig zu werden, wenn sie durch staatliche Gelder bei Umschulungen unterstützt werden.

Sie sagen also, die Klimabewegungen sollten sich nicht gegen Beschäftigte stellen, die für fossile Konzerne arbeiten, sondern das Gespräch mit ihnen suchen?

Ich habe Freunde, die in der Ölindustrie oder ihr angehängten Industrien arbeiten. Meine Schwester arbeitet auch in der Automobilindustrie. Ich kenne Menschen aus diesen Bereichen und kann sagen: Jeder Person ist die Qualität des Arbeitsplatzes ein Anliegen. Dabei geht es ums Geld, aber auch um die Arbeitsbedingungen. Im Bereich Kohle fühlen sich Leute vielleicht in ihrem Berufsethos angegriffen, wenn wir sagen, wir brauchen eine Veränderung. Aber das Beispiel in Schottland zeigt, dass viele dieser Leute sagen: Wir wollen auch keine Klimakrise. Wir brauchen jedoch staatliche Unterstützung. Wenn es gute Jobs gibt, sind auch die Arbeiter:innen aus der Öl- und Gasindustrie bereit, sich beruflich anders zu orientieren.

Mit Carola Rackete sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

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