Trendwende in Straßburg Menschenrechtsgericht billigt Verwahrung
07.09.2017, 15:03 Uhr
(Foto: dpa)
Ein Berliner, gegen den nach sechseinhalb Jahren Haft Sicherungsverwahrung verhängt wurde, verklagt die Bundesrepublik. Obwohl er ein Jahr lang auf freiem Fuß nicht gewalttätig wurde, weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Klage ab.
Noch vor ein paar Jahren fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder Urteile zur deutschen Sicherungsverwahrung, bei denen die Bundesrepublik unterlag. Das ist offenbar vorbei: Die Klage eines Mannes, für den nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet worden war, wurde abgewiesen.
Wenn Richter einen Verbrecher verurteilen, hängt das Strafmaß allein von der Tat ab. Ob der Richter erwartet, dass der Täter nochmals straffällig wird, ist also nicht entscheidend. Um die Bevölkerung trotzdem vor gefährlichen Verbrechern zu schützen, können Richter eine Sicherungsverwahrung anordnen. Die führt dazu, dass der Täter weiter eingesperrt bleibt, nachdem er seine Strafe bereits abgesessen hat. Alle zwei Jahre muss dann überprüft werden, ob von dem Verwahrten immer noch eine Gefahr ausgeht.
Der Berliner hatte dagegen geklagt, dass er auf der Grundlage von zu alten psychiatrischen Gutachten in Sicherungsverwahrung genommen worden war. Dem stimmten die Straßburger Richter nicht zu. Zwar brauche es "ausreichend aktuelle" Expertenmeinungen, heißt es in dem Urteil. Feste zeitliche Vorgaben könnten dafür allerdings nicht gemacht werden.
Ob ein Gutachten auch mehrere Jahre später noch die weitere Gefährlichkeit eines Straftäters nachweisen kann, sei abhängig von den Umständen des Einzelfalls. Entscheidend sei, ob es bedeutsame Veränderungen seit der letzten Untersuchung gegeben habe - etwa eine Freilassung oder eine freiwillige Therapie, so die Richter.
Dem Kläger, der zwischenzeitlich unter Auflagen entlassen worden ist, half das nicht. Der Berliner war 1998 zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er seiner Ex-Freundin in den Hals gestochen hatte. Nach dem Ende seiner Haftzeit verzögerte sich eine Entscheidung über seine Sicherungsverwahrung, so dass er entlassen werden musste. In Freiheit fand der Mann eine Wohnung, einen Job sowie eine Therapeutin und beging keine weiteren Straftaten. Ein knappes Jahr später wurde die Sicherungsverwahrung dennoch angeordnet - aufgrund von viereinhalb Jahre alten Gutachten.
An der Faktenbasis hat sich nichts geändert
Aus der Sicht des Straßburger Gerichtshofs war das in Ordnung. Die Berliner Gerichte hätten vernünftig dargelegt, dass das eine Jahr in Freiheit zu wenig gewesen war, um zu beweisen, dass der Mann nicht mehr gefährlich gewesen sei. Der 57-Jährige sei auch vorher schon über längere Zeiträume hinweg nicht gegen ehemalige Freundinnen gewalttätig geworden, wenn diese sich von ihm getrennt hätten. Und er habe so viele Gewaltverbrechen begangen, dass er durchaus als gefährlich einzustufen sei. Insgesamt habe sich die "Faktenbasis" der Gutachten nicht geändert.
Der Streit um die deutsche Sicherungsverwahrung begann vor knapp zwanzig Jahren: Bis dahin durfte sie, wenn sie zum ersten Mal verhängt wurde, nur zehn Jahre dauern, danach musste der Verwahrte entlassen werden. 1998 fiel die Befristung weg und das Leben hinter Gittern kann seitdem schon nach nur einem Urteil lebenslänglich andauern. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder prägte die markige Forderung "wegsperren - und zwar für immer".
Allerdings wurde die Möglichkeit, Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen zu können, 2009 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig eingestuft und verboten. In der Folge musste Deutschland sogar Entschädigungen an Gewaltverbrecher zahlen.
Mit einer umfassenden Neuregelung der Sicherungsverwahrung gab sich der Gerichtshof 2016 zufrieden. Ausschlaggebend war, dass der Gesetzgeber die individuelle therapeutische Betreuung der Straftäter gestärkt hatte. Mittlerweile weist Straßburg viele Beschwerden von Sicherungsverwahrten ab. Erst im Februar scheiterte ein Sexualmörder, der zum Zeitpunkt seiner Tat noch ein Jugendlicher gewesen war.
Quelle: ntv.de, hvo/dpa