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So ganz genau weiß die Kanzlerin angeblich nicht, was das Volk will. Um es herauszufinden, spricht sie mit 60 Bürgern. Kontroversen gibt es nicht - Merkel will alle glücklich machen. Am Ende kann ein fränkisches Dorf auf ein Feuerwehrauto hoffen.
Man solle während der Veranstaltung nicht fotografieren, bittet der Moderator, der normalerweise für den Bayerischen Rundfunk arbeitet. Aber im Anschluss gebe es ja ein Gruppenbild. Dann erinnert er die Teilnehmer noch daran, zu klatschen, wenn die Kanzlerin kommt.
Das klappt gut. Angela Merkel bekommt ihren Applaus. Dies ist nicht die neue TV-Show "Bürger fragen, die Kanzlerin antwortet", auch wenn die Veranstaltung live im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen wird. Dies ist der Auftakt für einhundert "Bürgerdialoge", mit denen die Bundesregierung herausfinden will, "was uns wichtig ist", wie es im Untertitel der Reihe heißt.
Bevor es losgeht, erklärt die Bundeskanzlerin noch kurz den Sinn der Sache. Die Parteien und auch die Regierung wüssten "nicht ganz genau", ob ihre Politik auch immer den Wünschen der Bürger entspreche. Das ist erstaunlich, angesichts der vielen Umfragen, die Merkel regelmäßig in Auftrag gibt. Wie dem auch sei: Insgesamt einhundert "Bürgerdialoge" soll es geben, auch im Netz bittet die Bundesregierung ihr Volk um "Input", wie Merkel das nennt. Am Ende werden Wissenschaftler das Ganze in einem "Aktionsplan" für die Bundesregierung zusammenfassen. Und jetzt wolle sie lieber zuhören, als Fragen zu beantworten.
Das klappt dann nicht so gut. Die meisten der repräsentativen Bürger, die sich zu Wort melden, haben Fragen. Wie kann man dafür sorgen, dass die Sozialsysteme auch dann funktionieren, wenn die wirtschaftliche Entwicklung nicht mehr so gut ist? Ist es gerecht, dass ein fünffacher Familienvater dieselben Abgaben in die Rentenversicherung zahlt wie ein Kinderloser? Müsste Deutschland sich nicht dazu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein? Ist es richtig, dass die Kommunen für die Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern und Flüchtlingen aufkommen müssen?
"Wenn Sie das so sagen"
Auf diese Fragen hat Merkel eine Antwort. Man müsse dafür sorgen, dass es der Wirtschaft dauerhaft gutgehe. Die Koalition habe die Mütterrente ausgeweitet, um die Erziehungsleistung von Frauen besser zu würdigen. Im Grunde sei Deutschland ein Einwanderungsland, "meine Partei spricht von einem Zuwanderungsland, glaube ich". Am 18. Juni treffe sie die Ministerpräsidenten der Länder, um über die Finanzierung von Asylbewerbern zu sprechen, "dann gehen wir diese ganzen Punkte durch und finden dann hoffentlich Lösungen".
Schauplatz der Diskussion ist die Kulturbrauerei im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, eine sanierte Event-Location, in deren Hof im Winter ein kuscheliger Weihnachtsmarkt veranstaltet wird. 60 Frauen und Männer wurden anhand des sozio-ökonomischen Panels des DIW für die Veranstaltung ausgewählt, das Motto lautet: "Gut leben in Deutschland". Merkel hatte diese Formel bereits im Januar 2014 benutzt, in ihrer ersten Regierungserklärung als Kanzlerin dieser Großen Koalition. Ihre Regierung wolle "die Quellen des guten Lebens allen zugänglich machen, das bedeutet, allen bestmögliche Chancen zu eröffnen", sagte sie damals. Gutes Leben, das wollen alle.
Wohlfühlpolitik ist genau Merkels Stil. Sie ist extrem gut darin, dem Publikum das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden. Sie führt solche Debatten so, wie sie regiert: Meinungsunterschiede sind in Ordnung, Kontroversen gibt es nicht, zumindest nicht öffentlich. Ein Mann fragt, ob sie sich ein anderes Wirtschaftssystem vorstellen könnte, das nicht so stark auf Wachstum basiert. Er fragt, mit anderen Worten, nach der Abschaffung des Kapitalismus. "Ich glaube ganz fest", antwortet Merkel, "dass der Wachstumsbegriff (in Zukunft) ein anderer wird als nur der nach dem Bruttoinlandsprodukt." Allerdings sei es auch nicht schlecht, wenn das Bruttoinlandsprodukt wachse. Mit dieser Antwort können alle glücklich sein, Wachstumsfreunde und Wachstumskritiker. Ein anderer Teilnehmer plädiert dafür, die privaten Krankenversicherungen abzuschaffen - für die CDU bislang ein Tabu. Merkel bringt ein paar Gegenargumente und sagt dann, sie habe sich "noch nicht" für die Abschaffung der privaten Krankenversicherung entschieden, "aber wenn Sie das so sagen, dann ist das etwas, das wir mitnehmen".
Ein Feuerwehrauto für Thiersheim
Wenn es heikel wird, besinnt Merkel sich auf das Format der Veranstaltung. Ein Rentner fragt, ob es nicht möglich wäre, dass alle in die Rente einzahlen, also auch Freiberufler und Beamte. Darauf Merkel: "Heute sind wir ja auf dem Trip, ich will wissen, was Sie wollen." Dann erklärt sie, dass der Umstellungsprozess ziemlich lange dauern und Probleme aufwerfen würde.
So ganz reicht ihr diese Haltung des Zuhörens aber offenbar nicht. Ihr Moment kommt, als eine junge Frau von ihrem Heimatdorf in Oberfranken berichtet, in dem es für die alten Leute schwer sei, zum nächsten Supermarkt zu kommen. Merkel spricht von mobilen Einkaufsmöglichkeiten und von flexiblem Personennahverkehr. Weder für das eine noch für das andere ist sie als Bundeskanzlerin zuständig. Dann erzählt die junge Frau noch, dass die Dorfbewohner privat Geld aufbringen müssten, um ein neues Feuerwehrauto anzuschaffen. Merkel fragt: "Welcher Ort ist denn das?" - "Thiersheim." - "Thiersheim hat kein Feuerwehrauto." Für diese Feststellung gibt es den ersten spontanen Applaus. Merkel wehrt ab, "ich kann nichts versprechen", aber allen ist klar, dass sie versuchen wird, das Feuerwehrauto zu besorgen.
Was sie aus dieser Diskussion mitnehme, will der Moderator nach gut anderthalb Stunden von Merkel wissen. Vor allem nehme sie mit, "dass es ein intensives gemeinsames Nachdenken gibt, dass keiner ein Patentrezept hat". Die Auswertung werde zeigen, "was für Veränderungen wir durchsetzen müssen".
Veränderung gibt es mit Merkel nur, wenn wirklich alle dafür sind. Zum Schluss gibt es noch einmal Applaus. Und das Gruppenbild. Alle strahlen.
Quelle: ntv.de