Gestern Mathe, heute Merkel Die Kanzlerin hinterlässt strahlende Gesichter
12.05.2015, 15:19 Uhr
Zum Abschied gibt es eine Umarmung - Merkel an der Röntgen-Schule in Berlin-Neukölln.
(Foto: AP)
Sogar inmitten einer Schülerband wirkt Merkel, als sei sie auf Inspektionstour. Trotzdem sind alle begeistert, wenn die Kanzlerin kommt. Wie macht sie das?
Es ist wie immer, wenn Angela Merkel ihr Volk besucht: Die Menschen freuen sich, fotografieren sie, ein paar Mutige machen Selfies mit der Kanzlerin. So auch hier, an der Röntgen-Sekundarschule in Berlin-Neukölln. Gestern haben die Zehntklässler ihre Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss geschrieben, Mathe. Morgen ist Englisch dran, heute Merkel. "Voll schön, dass sie kommt", sagt eine Schülerin.
Merkel schreitet derweil das Spalier ab, schüttelt Hände, plaudert. Auch die Musiker der "Big Band Rollberg" werden von ihr begrüßt - ein wenig wirkt es, als inspiziere die Kanzlerin die Gruppe. Etwas unbeholfen schlägt sie auf eine Trommel und lässt sich mit der Trommlerin, die dafür ihr Spiel unterbricht, knipsen.
Noch ist weiter nichts passiert, doch die Schülerinnen und Schüler freuen sich erkennbar über den hohen Besuch. "So habe ich die noch nie erlebt", sagt ein Erzieher, der am Nachmittag Schüler betreut. Er freut sich auch, weil die Jugendlichen ganz offensichtlich stolz auf ihre Schule sind.
Später, bei einer Podiumsdiskussion, soll es eigentlich um Europa gehen, doch die Fragen der Schüler drehen sich hauptsächlich um Probleme der Integration. Ein Mädchen will wissen, wie man der Benachteiligung von Frauen mit Kopftuch auf europäischer Ebene entgegenwirken könne - einige Mädchen an dieser Schule tragen ein Kopftuch, die Fragestellerin auch. Merkel entgegnet, erst einmal müsse man sich in Deutschland mit dem Thema beschäftigen. Noch immer gebe es viele Menschen, die bei Kopftüchern "nicht gerade denken, dass da ein Mathematik-Nobelpreis um die Ecke kommt".
"Freude an einem Diskurs, den sie nicht führt"
Abgesehen davon, dass es gar keinen Nobelpreis für Mathematik gibt, ist dies ein typischer Merkel-Satz: Bei dem Versuch, auf Augenhöhe mit ihrem Gegenüber zu sprechen, verläuft sie sich in verquasten Formulierungen, die vor allem eines sagen sollen: Ich verstehe, was du meinst. Merkel gibt sich größte Mühe, sich nicht über andere zu erheben - nicht über die Schülerin mit Kopftuch, aber auch nicht über die, die Vorurteile gegen Kopftuchträgerinnen haben. Dann erzählt sie, dass die Töchter des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in den USA studieren mussten, weil sie ihr Kopftuch nicht ablegen wollten. Erdogan als Vorbild für Kinder von Migranten in Deutschland? So hat Merkel das vermutlich nicht gemeint.
Die Journalistin Carolin Emcke, die Merkels Sprache vor zwei Jahren untersuchte, schrieb, Merkel meide jede Form der sozialen Distinktion. "Sie hebt sich nicht ab oder hervor. Sie erzeugt keine Distanz aus Bildung oder Wissen oder Amt, wenn sie spricht. Niemals klingt das heraus, was sie ist: überlegen." Emcke hält nicht viel von dieser inszenierten Demut. "Angela Merkel domestiziert Kritik durch simulierte Freude an einem Diskurs, den sie nicht führt." Das gilt bis heute für den NSA-Skandal, den Merkel bislang mit leeren Floskeln überstanden hat.
Um die Arbeit von Geheimdiensten geht es an der Röntgen-Schule nicht, aber Merkels Diskurs mit den Schülern ist durchaus mit dem No-Spy-Abkommen vergleichbar, das sie offiziell noch immer anstrebt, obwohl sonnenklar ist, dass sie es nicht bekommen wird. Ein Schüler berichtet, dass die Kinder dieser Schule sich als Ausländer fühlen, obwohl sie einen deutschen Pass haben. "Wir fühlen uns, als wären wir da hinten in der Ecke, und da ist es auch noch staubig. Wir wollen auch mal, dass sauber gemacht wird, wir wollen auch mal das Licht sehen!" Seine Frage ist klug und berechtigt: Wie kann man dafür sorgen, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht länger ausgegrenzt werden?
"Da kriegen wir einen über die Rübe"
Eine Antwort hat Merkel nicht. Man müsse "die Deutschstämmigen" ermuntern, nach Neukölln zu ziehen, "vielleicht zuerst die Studenten". Wenn sie das nächste Mal in Charlottenburg sei, wolle sie dafür werben, dass die dort Lebenden auch mal in Neukölln ins Kino gehen. Dann fügt sie an: "Aber da muss ich aufpassen, dass die nicht sagen, da kriegen wir einen über die Rübe." Da ist es wieder, das Verständnis für alle.
Das einzige Thema, bei dem Merkel eigene Überzeugungen vertritt, darauf hatte auch Emcke hingewiesen, ist die Abwehr von Antisemitismus und offenem Rassismus. Sie wacht förmlich auf, als ein Schüler fragt, "ob Sie Waffen an Israel und Palästina verkaufen". Ja, Deutschland verkaufe Waffen an Israel, sagt Merkel, "weil wir glauben, dass Israel sich verteidigen muss". Die Frage passe, gleich treffe sie sich mit dem israelischen Präsidenten. Merkel erinnert daran, dass der Bundestag erst vor kurzem den 70. Jahrestag des Kriegsendes begangen und Deutschland eine Verpflichtung für Israel habe. Deutschland setze sich aber auch dafür ein, "dass es einen Palästinenserstaat gibt". Damit sind alle glücklich.
Zum Abschied singt sie mit der Rollberg-Band das Volkslied "Wir lieben die Stürme". Merkel kennt den Text nicht, kein einziges Wort, aber sie kämpft sich durch das Stück. Jeder und jede andere würde in dieser Situation peinlich auf alle Umstehenden wirken. Nicht Merkel: Tatsächlich sind alle begeistert. Geradezu innig umarmt sie zum Abschied zwei Mädchen aus der Gruppe. Als Merkel geht, lässt sie strahlende Gesichter zurück.
Quelle: ntv.de