Wahl schafft komplett neue Situation Merkel braucht wieder einen neuen Partner
23.09.2013, 13:13 Uhr
Koalieren sie wieder?
(Foto: AP)
Angela Merkel geht die Jahre neun bis zwölf ihrer Kanzlerschaft an. Wieder wird ihre Koalition eine andere Zusammenstellung haben, denn die FDP liegt im parlamentarischen Wachkoma. SPD oder Grüne? Die Gespräche werden kompliziert.
Die Wahlschlacht ist geschlagen, langsam verzieht sich der Pulverdampf. Wie nach einer richtigen Schlacht gibt es Sieger und Besiegte, unter diesen stark und leicht Versehrte. Das Wahlergebnis ist kompliziert. Es ist nun an Angela Merkel, nach dem knappen Verfehlen der absoluten Mehrheit für die Union das Beste daraus zu machen. Sie hat es schwerer als Helmut Kohl, der zwei Mal vor einer Alleinregierung stand. 1976 blieben CDU und CSU in der Opposition, weil SPD und FDP ihre Koalition mit knapper Mehrheit fortsetzen konnten. 1983 standen dem Pfälzer die stark angeschlagenen Liberalen als Mehrheitsbeschaffer zu Verfügung. Sie waren nach ihrem spektakulären Seitenwechsel im Herbst 1982 froh, überhaupt in den Bundestag eingezogen zu sein.
"Sie wissen, wie ich bin und was ich tue", sagte die Bundeskanzlerin zum Abschluss des TV-Duells mit ihrem SPD-Konkurrenten Peer Steinbrück. Mit ihrem entwaffnenden Lächeln zog sie die Deutschen in ihren Bann: "Die Frau hat uns, ohne dass es weh tut, durch die Untiefen der Finanz- und Schuldenkrise geführt, Deutschland steht dabei wirtschaftlich sehr gut da", werden sich viele gedacht haben. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die turbulenten rot-grünen Reformjahre unter dem ständig fordernden Gerhard Schröder, die den Bürgern viel abverlangt haben. Dass Merkel von den Reformen profitiert und in der letzten Legislaturperiode wichtige innenpolitische Probleme einfach aussaß beziehungsweise gar nicht anfasste - ihr Ziehvater Kohl lässt grüßen -, wird ausgeblendet. Merkels Politik des Fernhaltens der Probleme vom Volk entspricht der derzeitigen Stimmung im Wahlvolk. Lieber eine personifizierte Entwarnung im Kanzleramt, als einen Regierungschef, der ständig die Finger in die Wunde legt: Mutti wird‘s schon richten.
Nun heißt es: Große Koalition oder Schwarz-Grün? Für diese ohne Zweifel schwierigen Konstellationen ist die Bald-Dauerkanzlerin selbst verantwortlich. Sie hielt den bisherigen Koalitionspartner FDP klein. Für den schmarotzerhaften Versuch der Gelben, mit ihrem Namen Zweitstimmen im Kampf gegen den parlamentarischen Tod zu ergaunern, hatte Merkel nur noch Verachtung übrig. In der ihr eigenen Art - man konnte es zwischen den Zeilen hören beziehungsweise lesen - machte die CDU-Chefin deutlich, dass sie von der FDP des Jahres 2013 nichts mehr hielt. Kein Wunder, denn die vergangenen vier Regierungsjahre haben auch bei Merkel Wunden hinterlassen. Den aus ihrer Sicht hinterhältigen Coup von Philipp Rösler, der zum Einzug von Joachim Gauck ins Schloss Bellevue führte, hat sie nicht vergessen. Aller gespielten Einigkeit zum Trotz: Merkel hatte die Liberalen bereits vor der Wahl "gefressen".
Der Rauswurf der FDP ist eine wichtige Zäsur in der bundesrepublikanischen Geschichte. Daraus den Schluss zu ziehen, der Liberalismus habe in Deutschland keine Zukunft, ist sicherlich falsch. Ganz und gar nicht liberal gab sich die FDP zuletzt. Sie war zu einer reinen Lobbypartei verkommen: inhaltliche Leere, nur noch Phrasendrescherei. Das Wahlkampfduo mit dem abgewirtschafteten Rainer Brüderle und dem völlig überforderten Parteichef Rösler war selbst für Menschen, die jahrelang FDP wählten, nicht zu ertragen. Die Liberalen sind nun APO-Partei. Christian Lindner steht als neuer Vorsitzender bereits bereit. Ihm fällt die schwierige Aufgabe zu, die Freien Demokraten wieder fit für den Bundestag zu machen. Es ist völlig unklar, ob die finanziell klamme Partei, der nun in großem Ausmaß staatliche Gelder abhandenkommen, 2017 in den Berliner Reichstag zurückkehren wird.
Erfolglose "Stones"-Ära
Das bundespolitische Wachkoma der FDP sorgt für Genugtuung bei SPD und Grünen. Es ist aber auch der einzige Punkt, der ihnen Freude bereiten kann. Nicht einmal 26 Prozent erreichte die ehemals so stolze Partei von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Und dass, obwohl die 2009er-Latte (23 Prozent) von Frank-Walter Steinmeier nun wahrlich nicht hoch gelegen hatte und die SPD diesmal nicht aus einer Großen Koalition kam. Die "Stones"-Ära ist die erfolgloseste in der SPD-Nachkriegsgeschichte. Peer Steinbrück profitiert nicht von der Unterstützung des fast 95-jährigen Altkanzlers Helmut Schmidt ("Er kann es"). Bereits seine Ernennung zum Kanzlerkandidaten war wegen schlechten Mannschaftsspiels ziemlich verunglückt. Dann tapste Steinbrück von Fettnapf zu Fettnapf. Auch Steinbrücks mitunter zu lockeres Mundwerk schreckte die Deutschen davon ab, ihn zu wählen. Steinbrück konnte zwar in der Endphase des Wahlkampfes überzeugen - es war aber zu spät.
Die über allen Dingen thronende Merkel spielte Hase und Igel mit den Sozialdemokraten. Sie wilderte im roten Themengarten und machte sich viele Punkte zu eigen. So gelang es Steinbrück und den Seinen nicht, mit dem Thema Mindestlohn zu punkten. Auch das Thema Spitzensteuersatz verfing nicht - bei diesem Thema waren die Sozialdemokraten auch angreifbar, denn es war doch die Regierung Schröder, die eine Senkung auf 42 Prozent umgesetzt hatte. Steinbrücks Feldzug gegen den ausufernden Billiglohnsektor erwies sich als Rohrkrepierer, weil der deutsche Wähler nicht vergessen hat, dass seinerzeit Rot-Grün maßgeblich an dessen Etablierung beteiligt war. Auch hinsichtlich der Schuldenkrise blieb die SPD in der Defensive, unterstützte sie doch über weitere Strecken den Kurs der schwarz-gelben Regierung und sorgte dafür, dass Merkel bei wichtigen Abstimmungen im Bundestag überhaupt eine Mehrheit zusammenbekam. Dass die Sozialdemokraten auf Merkels unfaire Attacke, sie seien europapolitisch unzuverlässig, sauer reagierten, war deshalb allzu verständlich. In dieser Hinsicht gibt es bei etwaigen schwarz-roten Koalitionsverhandlungen viel auszuräumen.
Grüne verprellen eigene Wählerklientel
Oder steigen doch die Grünen ins Koalitionsbett? Und das, o bwohl sie weiterhin die zahlenmäßig schwächste Bundestagsfraktion stellen? Nach dem schlechten Wahlergebnis steht ihre Führungsriege zur Disposition, denn der Grünen-Wahlkampf war verunglückt. Spitzenkandidat Jürgen Trittin schien seinem Wunsch, neuer Bundesfinanzminister zu werden, alles andere untergeordnet zu haben. Die Republik stritt zu viel über die Steuerpläne der Ökopartei und zu wenig über eigentlich urgrüne Themen wie Umweltschutz und Energiewende. Auch die verstärkte Hinwendung zur Sozialpolitik tat den Grünen nicht gut. Sie operierten an ihrer Wählerklientel, die zu einem großen Teil aus Gutverdienern besteht, die nur wenig Gedanken an die immer breiter klaffende Schere zwischen Arm und Reich verschwenden, vorbei. Die Linkspartei ist auf diesem Gebiet mit ihrem Programm "100 Prozent sozial" nicht zu schlagen.
Die Linke zehrte noch einmal vom charismatischen Gregor Gysi. Er traktierte SPD und Grüne und spielte geschickt die rot-rot-grüne Karte, wohl wissend, dass ein solches Bündnis zu diesem Zeitpunkt unrealistisch ist. Gesetzt es kommt zu einer Großen Koalition, ist der 65-Jährige linke Hansdampf sogar eine Art Oppositionsführer. Dennoch steht auch die Linkspartei vor personellen Problemen, an der Seite von Gysi ist für andere nach wie vor wenig Platz. Der nicht gelöste Zwist des Fraktionschefs mit Oskar Lafontaine - dieser lässt seine Lebensgefährtin Sahra Wagenknecht für sich in vorderster Linie agieren - wird die Partei nicht zur Ruhe kommen lassen.
Die knappe Mehrheit der drei bisherigen Oppositionsparteien wird sich - wie bereits 2005 - auch diesmal nicht in einer Regierungsbildung niederschlagen. Die außenpolitischen Positionen der Linken sind für SPD und Grüne unannehmbar. Auch die wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der Gysi-Truppe (Abschaffung von Hartz IV, Mindestlohn von 10 Euro und weg von der Rente mit 67) sind für die Sozialdemokraten inakzeptabel, würde dies doch die vollständige Abkehr von der "Agenda 2010", die für die SPD den Verlust des Kanzleramts nach sich zog, bedeuten.
Die Tatsache, dass entweder SPD und Grüne in die neue Regierung Merkel eintreten, bedeutet auch eine Gefahr für ein etwaiges rot-rot-grünes Projekt in vier Jahren. Es ist durchaus möglich, dass die Grünen noch bürgerlicher werden und vor allem den von der FDP in den vergangenen 30 Jahren sträflich vernachlässigten linksliberalen Part vollständig übernehmen. Die Nibelungentreue der Grünen zur SPD wird nicht dauerhaft sein, ein mehrheitsfähiges rot-grünes Bündnis auf Bundesebene ist auf absehbare Zeit ohnehin unrealistisch. Zumal sich auf der rechten Seite mit der eurokritischen Alternative für Deutschland (AfD) eine weitere politische Kraft zu etablieren scheint.
Die AfD ist mit ihrem eloquenten Chef Bernd Lucke mitnichten eine rechtsradikale Partei. Sie ist das Auffangbecken für enttäuschte Konservative und Rechtsliberale. Macht die AfD keine Fehler, indem sie dem Lockruf des Populismus erliegt, könnte eine parlamentarische Wiederaufstehung der FDP auf lange Zeit unmöglich werden. Aber auch bei der Linkspartei herrscht Alarmstimmung, denn in Ostdeutschland fischt die AfD erfolgreich im sozialistischen Wählerteich.
Wichtige Probleme müssen gelöst werden
So steht Deutschland wieder vor ereignisreichen Tagen. Ob Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün: Beide Koalitionen werden äußerst komplizierte Organismen sein. Merkels aufmüpfige Schwester CSU tönt schon einmal lautstark, dass für sie eine Koalition mit den Grünen nicht infrage kommt. Es gibt in den kommenden vier Jahren viel zu tun. Die Energiewende muss endlich angepackt und zielgerichtet vorangetrieben werden. Angesichts der demografischen Situation in der Bundesrepublik schreit die Pflegeversicherung regelrecht nach einer Reform. Das Gesundheitswesen ist ein Dauerbrenner. Der immer schlechter werdende Zustand der Infrastruktur entwickelt sich zu einer ernsten Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Autobahnen, Straßen, Brücken und Schienen müssen saniert werden - das Ganze kostet irrsinnig viel Geld. Merkels ausgerufene "Bildungsrepublik Deutschland" steckt in den Kinderschuhen. Die europäische Schuldenkrise grassiert noch immer, Griechenland benötigt ein weiteres Hilfspaket. Auch außenpolitisch ist die Welt noch komplizierter geworden: Hinsichtlich Afghanistans, Syriens und anderer Krisenherde fordern die Verbündeten den deutschen Beitrag ein.
Die Vielzahl der Herausforderungen spricht, auch mit Blick auf das Kräfteverhältnis im Bundesrat, eher für eine Große Koalition. Allerdings ist die Situation für die Sozialdemokraten diesmal schwieriger als vor acht Jahren. Aufgrund des Wahlergebnisses (25,7 zu 41,5 Prozent) begegnen sie der Union nicht auf Augenhöhe, sondern sind diesmal ein klassischer Juniorpartner. Merkel muss bei den Gesprächen viel Fingerspitzengefühl zeigen.
Insgesamt bleibt den im Bundestag verbliebenen Parteien nicht viel Zeit zur Selbstfindung. Das spielt wiederum der Kanzlerin und der Union in die Hände. Sie kann und muss von SPD und Grünen verlangen, sich schnell zu entscheiden. Denn für das Projekt Europa ist es überlebensnotwendig, dass das ökonomisch stärkste Land des Alten Kontinents möglichst zeitnah eine stabile Regierung bekommt.
Quelle: ntv.de