Weiter Blick statt kleiner Schritte Merkels stärkste Rede überzeugt die CDU
14.12.2015, 15:18 UhrDie Bundeskanzlerin hat sich lange nicht getraut, über das große Ziel ihrer Politik zu sprechen. Nun tut sie es und erobert damit ihre eigene Partei. Am Ende rührt sie der Applaus fast zu Tränen.
Es gibt einen kurzen Moment in der Messe Karlsruhe, kurz nach 13 Uhr, da tigert eine Dame über die Bühne, presst die Lippen aufeinander und versucht, das Zittern ihres Kinns zu unterdrücken. Die Kameras fangen ihr Gesicht ein, jeder kann es auf den Leinwänden sehen. Ihre Augen scheinen feucht zu sein. Angela Merkel ist gerührt, erleichtert, stolz.
Knapp neun Minuten applaudieren die CDU-Delegierten ihrer Vorsitzenden, sie jubeln ihr zu. Dabei hat Merkel ihrer Partei in einer schweren Phase nicht etwa nachgegeben, sondern ihr in der Eröffnungsrede zum Parteitag viel zugemutet. Diese Rede ist vielleicht die beste, die sie je gehalten hat: Sie tat das, was sich viele von ihr lange ersehnt hatten. Sie sprach über die Vision, die hinter ihrer Politik steht. Die Kanzlerin der kleinen Schritte zeigte, wohin diese Schritte einmal führen sollen, auch wenn das Ziel noch nicht in Sicht ist.
Begonnen hatte Merkel damit, das Jahr Revue passieren zu lassen. Zweimal Terror in Paris, Friedensverhandlungen in Minsk, der Absturz der Germanwings-Maschine, die Verhandlungen mit Griechenland, die Klimaverhandlungen und natürlich die Flüchtlingssituation. Mitten zwischen diesen historischen Ereignissen hatte sie am 31. August Mut machen wollen, dass Deutschland die Situation meistert. In Karlsruhe liest sie ihre eigenen Worte noch einmal vor: "Wir schaffen das, und dort, wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden."
"Zu unserer Identität gehört es, Großes zu leisten"
Merkel ist eigentlich nicht der Typ dafür, sich selbst zu zitieren. Wer das tut, wirkt schnell etwas selbstverliebt. Aber sie will an die Diskussion anknüpfen, die sich an diese Aussage anschloss. Die Leute hätten sich gefragt, wie man eine solche Aussage nur treffen könne. Und Merkel antwortet nun: "Ich kann das sagen, weil es zur Identität unseres Landes gehört, Großes zu leisten." Dann skizziert sie den Weg Deutschlands aus den Trümmern über das Wirtschaftswunder und die Einheit zu einem weltweit "hoch geachteten" Land.
Konrad Adenauer habe nicht gesagt: "Wir wählen etwas Freiheit." Sondern eben: "Wir wählen die Freiheit." Ludwig Erhard habe nicht gesagt: "Wohlstand für fast alle." Sondern eben: "Wohlstand für alle." Und Helmut Kohl habe nicht blühende Landschaften für einige Regionen Ostdeutschlands, sondern eben für alle neuen Bundesländer versprochen. Alle diese Verkündungen waren Anmaßungen und brauchten Jahrzehnte, bis sie umgesetzt waren.
Wenn jemand in zehn Jahren auf die heutige Zeit zurückblicken würde, fragt sich Merkel, wie würde der über die heutigen Politiker denken, wenn diese sich nicht einmal vier Monate Zeit lassen, ihre Aufgabe zu bewältigen und ein einheitliches europäisches Vorgehen herbeizuführen? Wo doch die Vorfahren Jahrzehnte Geduld hatten.
Merkel treibt CDU den Konservatismus aus
Merkel weiß, dass die Einwanderung große Veränderungen für Deutschland mit sich bringen wird. Sie verschweigt das nicht, sondern wirft die entscheidenden Fragen auf: "Wie viel Veränderung tut uns gut? Welche Wirkungen haben die kulturellen Prägungen der Flüchtlinge auf uns? Werden wir noch das Deutschland sein, das wir kennen?" Das sind heftige Fragen für eine Partei, in der einige der Meinung sind, Deutschland dürfe sich eben nicht verändern. Merkel Rede wirkt zeitweise so, als wollte sie der CDU ihren Konservatismus austreiben, zumindest den Konservatismus, der zaghaft und ängstlich auf Veränderungen reagiert.
Klar, Merkel tut das schon lange. Aber sie tat es bislang in kleinen Schritten und sie erklärte auch immer nur den einzelnen kleinen Schritt. Nun sagt sie auch, warum sie das so macht: "In 25 Jahren wird es Empfindungen und Entwicklungen geben, die wir heute allenfalls erahnen, aber niemals wissen können." Merkel weiß nicht, wohin der Weg führt. Sie will ihn trotzdem mutig weitergehen. Gerade in einer Zeit, in der andere Monat für Monat schauen, wie viele Menschen über die Grenze kommen, weitet Merkel den Blick.
An dieser Stelle hat Merkel den Saal längst hinter sich. Der Applaus wird immer stärker. Je mehr Merkel ihrer Partei in den vergangenen Jahren zumutete, desto mehr wuchs das Bedürfnis nach einer Erklärung, wohin das alles führen soll. Nun gesteht die Parteivorsitzende, dass auch sie das Ziel nicht kennt. Aber sie spricht viel über den Kompass, der sie leitet: über die Würde des Menschen und das christliche Menschenbild. Wenn man von der Gott gegebenen Würde des Einzelnen ausgeht, so Merkel, dann müsse man erkennen: "Es kommen keine Menschenmassen, es kommen einzelne Menschen zu uns." Und es sei die Aufgabe der Volkspartei CDU, Klassen und Schichten zu überwinden, damit jeder bei ihr mitmachen könne.
Und dann folgt noch ein Zitat aus einer Pressekonferenz, die Merkel im September gab. Etwas umständlich hatte sie formuliert: "Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Nun sagt sie: "Ich will, dass Deutschland in 25 Jahren noch immer mein Deutschland, unser Deutschland ist."
Quelle: ntv.de