Politik

Wer folgt Dilma Rousseff nach? Michel Temer - vom Vize zum "Verräter"

Die Präsidentin und ihr Vize: Dilma Rousseff und Michel Temer.

Die Präsidentin und ihr Vize: Dilma Rousseff und Michel Temer.

(Foto: AP)

Brasiliens Senat hat es in der Hand: Mit einer Abstimmung könnte er Brasiliens Präsidentin Rousseff für vorerst 180 Tage absetzen. Dann wäre ihr Vize Temer am Zug, der massive Privatisierungen plant. Doch auch er ist im Volk sehr unbeliebt.

Michel Temer hat schon geübt: Über WhatsApp geriet eine knapp 15-minütige Probe-Ansprache für den Fall der Absetzung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff in Umlauf. Die Aufnahme ging an Parteikollegen, angeblich ein falscher Verteiler, von einem "Unfall" war die Rede. Vielleicht war es aber auch ein Testballon, wie Temer beim Volk ankommt.

Bisher ist der 75-Jährige Vizepräsident, seit 2011. Rousseff benutzt mittlerweile jedoch ein anderes V-Wort, wenn es um ihn geht: "Verräter". Wie zerrüttet das Verhältnis schon länger ist, zeigte ein Schreiben im Dezember, in dem Temer kritisierte, er sei nur ein "Dekorationsvize". "Es gibt ein absolutes Misstrauen von Ihnen und Ihrer Umgebung in Bezug auf mich und die PMDB", schrieb er.

Privatisierungswelle, Tausende Entlassungen

Es könnte Rousseffs Fehler gewesen sein, ihn und die Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) zu wenig einzubinden. Die Quittung: Der Bruch der Koalition durch die PMDB, die seit 2003 an der Seite von Rousseffs linker Arbeiterpartei (PT) steht und deren Mehrheitsbeschaffer ist. Temer blieb auch nach seinem Schreiben Vize. Nun will er eine Regierung ohne Roussefs Arbeiterpartei bilden. Dabei genießt er im Volk genauso wenig Rückhalt wie die 68-Jährige - und hätte bei Neuwahlen keine Chance.

"Xô! Temer" steht auf dem Plakat - Temer raus!

"Xô! Temer" steht auf dem Plakat - Temer raus!

(Foto: imago/Agencia EFE)

Rousseff könnte noch am Mittwoch vom Senat für 180 Tage suspendiert werden, zur juristischen Prüfung der Vorwürfe gegen sie. Dann will Temer noch diese Woche die Macht übernehmen. Im Herbst könnte Rousseff dann vom Senat endgültig des Amtes enthoben werden - und Temer bliebe voraussichtlich bis Ende 2018 Präsident. "Im Vergleich zu Temer ist Judas ein Anfänger", meinte der "Guardian" kürzlich mit Blick auf das gezielte Hinarbeiten auf Rousseffs Absetzung.

Temer plant eine massive Privatisierungswelle und die Entlassung Tausender Beschäftigter des öffentlichen Dienstes, die auf dem Ticket der Arbeiterpartei unterwegs sind. Die Zahl von 31 Ministerien will er zur Senkung der Staatskosten reduzieren - ebenso könnte bei den milliardenschweren Sozialprogrammen der Rotstift angesetzt werden. Für Unmut sorgte, dass als Minister auch Personen gehandelt wurden, gegen die bereits Korruptionsermittlungen laufen.

Glamour verbreitet dagegen vor allem Temers Frau: bildhübsch, einen halben Kopf größer als er und 43 Jahre jünger. Die 32-jährige Marcela Temer freut sich auf die mögliche Rolle als First Lady, ein Höhepunkt wäre sicher die Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio. Und sie erwartet in wenigen Monaten ihr zweites Kind mit Temer. Für den 75-Jährigen wäre es das Sechste. Ein Hoffnungsträger ist er nicht - aus Sicht von Wirtschaft und führenden Medien aber das kleinere Übel im Vergleich zu Rousseff, die zur tragischen Figur der Krise geworden ist. Sie hat nicht Charisma und Fortune ihres Vorgängers Luiz Inacio Lula da Silva.

"Weder Dilma noch Temer"

Das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas befindet sich derzeit in tiefer politischer Agonie. Die Welt blickt fassungslos auf das Spektakel in Brasília. Selbst die Deutsch-Brasilianische Industrie- und Handelskammer verschickt nun regelmäßig ein "Politik-Barometer Brasilien", um Unternehmen und an Investitionen Interessierten mehr Durchblick zu verschaffen. Die ausländischen Botschaften haben in ihren Drahtberichten Mühe, die Irrungen und Wirrungen zu erklären.

Rousseffs mutmaßlicher Nachfolger entstammt einer katholischen Familie aus dem Libanon, die 1925 nach Brasilien emigrierte. Sein Vater war in Tietê bei São Paulo im Kaffee- und Reisgeschäft tätig. Temer studierte in São Paulo Rechtswissenschaften und promovierte zur Verfassungsgeschichte Brasiliens. Angesichts seiner Machtstellung im fünftgrößten Land der Welt bezeichnete ihn das Magazin "Executive" süffisant als "den mächtigsten lebenden Libanesen der Welt".

Temer ist bestens vernetzt, politisch sehr wendig. Er war zwei Mal Präsident des Abgeordnetenhauses und arbeitete an der Verfassung mit. Als einen der größten Erfolge bewertet er die Reduzierung der Armut seit 2003 - die sich aber die Arbeiterpartei auf die Fahnen schreibt. Heute seien 40 Millionen Menschen mehr Teil der Mittelklasse, betont Temer. Seine größte Herausforderung ist jedoch die tiefe Rezession. Einer Umfrage zufolge sind 58 Prozent der Bürger dafür, auch ihn des Amtes zu entheben. Denn die Vorwürfe, die Rousseff zur Last gelegt werden, etwa die Verschleierung der Höhe des Staatsdefizits durch Bilanztricks, hat er als Regierungsmitglied mit zu verantworten. Es gibt bereits eine Protestbewegung in Brasilien mit dem Motto "Weder Dilma noch Temer".

Quelle: ntv.de, Georg Ismar, dpa

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