Politik

SPD-Chef wirbt mit "Onkel Herbert" Müder Gabriel ist fast am Ziel

Der Verhandlungsmarathon hat Spuren hinterlassen bei Sigmar Gabriel.

Der Verhandlungsmarathon hat Spuren hinterlassen bei Sigmar Gabriel.

(Foto: picture alliance / dpa)

Bei der Regionalkonferenz in Hamburg trifft Sigmar Gabriel auf eine Partei, deren Misstrauen gegenüber der Großen Koalition schwindet. Nach dem Mitgliederentscheid könnte der SPD-Chef der große Gewinner sein. Auch wenn es nicht immer einfach ist, wenn die Basis plötzlich mitreden darf.

Um zu zeigen, wie gut es um die SPD derzeit bestellt ist, wühlt Sigmar Gabriel im dicken Buch der deutschen Sozialdemokratie. Der Parteichef landet im Jahr 1966, als sich die erste Große Koalition bildete. "Die ganze Partei war dagegen", erzählt er. Damals habe es nicht mal einen Parteitag gegeben, so groß sei die Angst gewesen, dass ihnen das Ganze um die Ohren fliegt. "Onkel Herbert", wie er den damaligen Vorsitzenden Wehner nennt, sei tätlich angegriffen worden. "Da ist die Pfeife kaputtgegangen", sagt Gabriel und fügt hinzu: "Ich finde, dagegen sind wir verdammt friedlich geworden."

Die Mehrheit der 900 SPD-Mitglieder im Hamburger Curio-Haus lacht vergnügt. Man kann also wieder Spaß haben, na immerhin. Wer hätte das vor ein paar Wochen gedacht. Gabriel ist in die Elb-Metropole gekommen, um die Basis von dem schwarz-roten Koalitionsvertrag zu überzeugen, über den sie bis zum 12. Dezember abstimmen soll. Es sind spannende Wochen, vielleicht die wichtigsten in der jüngsten Parteigeschichte. Die SPD-Mitglieder entscheiden über die Zukunft des Landes, sie heben den Daumen oder senken ihn.

Eine große Liebe ist das Bündnis mit der Union nicht, daran hat sich auch zehn Wochen nach der Wahl nichts geändert. Aber seit das 185-seitige Pamphlet vorliegt, dreht sich die Stimmung. Der Widerstand gegen die Große Koalition nimmt ab. Eine Schlappe bleibt der SPD-Spitze beim Mitgliedervotum voraussichtlich erspart. Und doch zeigen Motivationsveranstaltungen wie die in Hamburg, dass es nicht immer ganz einfach ist, wenn man die Basis mitreden lässt.

Wie Willy 1969

Als Gabriel um kurz vor neun vor die Genossen tritt, beginnt er nachdenklich. Die Sorgen und Ängste seiner Partei kennt er nur zu gut. "Das Schisma der Agenda 2010", wie er es nennt, habe tiefe Gräben hinterlassen und der SPD noch im Wahlkampf angehangen. Er hat sich daher für einen neuen Weg entschieden. Das Votum soll alle einbinden. "Überall treffen sich in diesen Tagen Sozialdemokraten und reden über Politik", schwärmt er. "Das alleine lohnt sich schon."

Das Votum der SPD-Mitglieder

Der Koalitionsvertrag ist veröffentlicht. Wie geht es weiter?

- Bis 6. Dezember bekommen alle 475.000 Stimmberechtigten ihre Unterlagen zur Briefwahl.

- Vom 6. bis 8. Dezember soll in den Unterbezirken und Ortsvereinen bei Veranstaltungen diskutiert werden.

- Bis zum 12. Dezember um 24.00 Uhr müssen die Stimmen im Postfach des Parteivorstands eingegangen sein.

- Am 13. Dezember werden die Briefe in eine angemietete Halle in Berlin-Kreuzberg gebracht und von sogenannten Hochleistungsschlitzmaschinen geöffnet.

- Am 14. Dezember werden sie ausgezählt. Rund 400 Helfer unterstützen, noch am Abend wird wohl das Ergebnis bekannt gegeben.

Langsam wechselt Gabriel vom Psychologen zum Motivator. Über die Wehner-Episode kommt er auf die erste Große Koalition zu sprechen. "Danach ist Willy Brandt Kanzler geworden", ruft er, der es 2017 genauso machen will, als wolle er sagen: Habt ihr das vergessen? Er weiß, dass viele im Saal schon in den 60ern ihr Parteibuch hatten. Die Partei ist alt, "Weißkopf-Brigade" wird sie von einigen SPD-Politikern in Anspielung auf ihren hohen Altersdurchschnitt genannt. Eine Große Koalition muss also nicht immer schlecht sein. 1969 und 2009 - in der Rechnung des Parteichefs steht es 1:1. Vor übertriebenen Ängsten vor "der schwarzen Witwe Merkel" warnt er: "Wir können unsere Fehler nur selber machen."

Es ist eine beeindruckende Etappe, die Gabriel und seine Partei in den letzten Wochen zurückgelegt haben. Das zweitschlechteste Wahlergebnis der Geschichte und die erneute Aussicht auf eine Große Koalition sorgten für eine Depression. Der SPD-Chef wackelte plötzlich gefährlich. Es gab sogar Putschgerüchte. Wenn man mit einem in dieser Zeit nicht tauschen wollte, dann mit ihm. Doch Gabriel, der lange als poltrig und unstet galt, ging umsichtig vor.

Er nahm die Partei mit, beschloss ihr den Koalitionsvertrag zur Abstimmung vorzulegen. Zusammen mit seinen Unterhändlern setzte er viele SPD-Forderungen durch. Aus dem Koalitionsvertrag lässt sich kaum herauslesen, dass seine Partei eigentlich der Wahlverlierer ist. Ob Mindestlohn, Doppelpass oder Mietpreisbremse: In Hamburg belohnen die Genossen jeden Punkt mit donnerndem Applaus. "Großartig", "richtig", rufen immer wieder einzelne Mitglieder dazwischen.

Das Ende der Drohkulissen

Doch die letzten Wochen haben Spuren hinterlassen. Gabriel sieht sehr müde aus, seit zwei Monaten stemmt er einen Verhandlungs-Marathon. Als die Gespräche in der vergangenen Woche abgeschlossen waren, fuhr er am frühen Morgen noch zum Familienfrühstück nach Goslar, seine Frau hatte Geburtstag. Wenige Stunden später unterschrieb er in der Hauptstadt den Koalitionsvertrag. Es ist der Tag, an dem die Stimmung dreht. Denn bis dahin galt der Ausgang des Votums als völlig offen.

Zu Besuch in Hamburg: SPD-Chef Gabriel mit Vizeparteichefin Aydan Özoguz und Olaf Scholz, Hamburgs Erstem Bürgermeister.

Zu Besuch in Hamburg: SPD-Chef Gabriel mit Vizeparteichefin Aydan Özoguz und Olaf Scholz, Hamburgs Erstem Bürgermeister.

(Foto: dpa)

Bei den Regionalkonferenzen erlebten die Zuhörer zuvor einen angespannten Parteichef, der sogar mit Drohkulissen spielte. Bei einem Nein und möglichen Neuwahlen werde die SPD unter 20 Prozent fallen. Er selbst sei dann weg. Jeder müsse wissen, "was es heiße, wenn ein Vorsitzender in einer so wichtigen Frage aufläuft". Über die Zukunft Gabriels äußerten sich Parteikollegen zuletzt zurückhaltend. Sie kennen die Automatismen des Politikbetriebs. Eine Basis, die gegen die Empfehlung der Parteispitze mehrheitlich mit Nein stimmt – es wäre der Super-Gau.

Doch dieses Szenario wird der Partei wohl erspart bleiben. In Hamburg sehen die Genossen einen erschöpften, aber teilweise sogar gelösten Gabriel. Dass das Misstrauen vieler Mitglieder gewichen ist, merkt der SPD-Chef auch an der Tonart der Briefe, die die Parteizentrale erreichen. Eine Skeptiker-Allianz mit strahlkräftigen Sozialdemokraten ist nicht in Sicht. Sogar Hannelore Kraft, anfangs vehemente Gegnerin der Großen Koalition, wirbt inzwischen für das Ja. Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann erwartet einen Ausgang von 70:30. Unrealistisch ist das nicht. Laut einer Umfrage sind 78 Prozent der SPD-Wähler für die Große Koalition.

"Stellt endlich die Frage"

Damit dürfte Gabriel die erste Tauglichkeitsprüfung für eine mögliche Kanzlerkandidatur wohl bestehen. Der Stolz darüber ist dem Parteichef anzumerken. Über den Koalitionsvertrag sagt er: "Da ist so viel drin, dass wir das wagen sollten." Regieren sei nie leicht, meint Gabriel, "erst recht nicht für uns. Wir haben es uns schon immer schwer gemacht, um es den Menschen leichter zu machen. Dafür gibt es die SPD." Ohne Pathos geht es nicht bei den Sozialdemokraten.

Und doch erlebt Gabriel in Hamburg auch, wie es sich anfühlt, wenn die Basis nach ihrer Meinung gefragt wird. Kaum ist die Fragerunde eröffnet, wird es chaotisch. Die ersten beiden, die vor das Saalmikrofon treten, halten minutenlange Monologe. Für viele Zuhörer ist das unerträglich. "Du sollst eine Frage stellen, das ist ja furchtbar", ruft einer. Als eine Frau ihre Erklärung vorliest, um ihr Nein gegen die Koalition zu erklären, versuchen ein paar Zuhörer sie durch Klatschen zu übertönen. Die Frau ist empört. "So viel zur innerparteilichen Demokratie", erwidert sie. Ein junger Mann aus Barmbek lobt Gabriel für den guten Vertrag und erzählt von Gesprächen mit Nachbarn und Freunden. Schon wieder wird im Zuschauerraum gemurrt. "Stellt endlich die Frage", brüllt ein älterer Herr. Mitbestimmung ist gar nicht so einfach.

Gabriel nimmt es locker. "Ich finde es gut, wenn jemand nur ein Statement abgibt. Das darf man in der SPD." Etwas triumphierend erzählt er von den hessischen Grünen, die sich darüber beschweren, dass sie nicht über Schwarz-Grün nicht abstimmen dürfen. "Ich habe mal gehört, die hätten die Basisdemokratie erfunden. Ich finde das super", höhnt er und die Hamburger lachen. Der Saal leert sich allmählich. Das Wesentliche ist gesagt. Wer will, darf noch bleiben und seine Meinung zum Koalitionsvertrag abgeben. Es bleibt aber friedlich. Tätliche Angriffe wie damals bei "Onkel Herbert" gibt es vor der dritten Großen Koalition nicht.

Quelle: ntv.de

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