Zittern in Brüssel Neue EU-Regierung wird zerpflückt
02.10.2014, 18:26 Uhr
Jean-Claude Juncker bietet mit seinem Team einiges an Angriffsfläche für die Parlament.
(Foto: REUTERS)
Die nächste EU-Kommission soll schlagkräftiger werden, als alle bisherigen. Doch auch das Parlament gewinnt an Kraft. Es rüttelt an so manchem Stuhl in Brüssel. Wen wird es treffen?
Es wäre ein merkwürdiges Zeichen, wenn die EU-Kommissare ihre Ämter wie geplant antreten dürften. Denn die Abgeordneten des Europaparlaments kämpfen seit Jahrzehnten für mehr Macht und zuletzt machten sie einen großen Sprung: Sie schafften es, ihren Wunschkandidaten Jean-Claude Juncker gegen den Willen vieler Regierungschefs zum Kommissionspräsidenten zu machen. Nun müssen sie über Junckers Kollegen entscheiden, und es wäre zumindest auffällig, wenn das Parlament nicht ein weiteres Mal seine Macht demonstrieren würde. Genügend Angriffsfläche bietet sein Team allemal.
Mindestens sechs designierte Kommissare müssen um ihren Posten fürchten:
- der ehemalige britische Finanzlobbyist Jonathan Hill, der künftig die Banken regulieren soll
- der ehemalige spanische Öl-Unternehmer Miguel Arias Cañete, der künftig für den Klimaschutz zuständig wäre
- der ehemalige französische Finanzminister Pierre Moscovici, der gegen die Defizitgrenzen verstieß und diese Grenzen bald bei anderen durchsetzen müsste
- der ungarische Justizminister Tibor Navracsics, der die Meinungsfreiheit einschränkte und künftig die Kultur fördern soll
- die bisherige Innenkommissarin Cecilia Malmström aus Schweden, die durch eine Nähe zu den USA auffiel und mit diesen das Freihandelsabkommen TTIP verhandeln würde
- die ehemalige slowenische Ministerpräsidentin Alenka Bratusek, die schon abgewählt war, aber sich noch schnell selbst als Vizepräsidentin für Energie nominierte, bevor sie das Amt übergab
Wen trifft es? Wenn am 22. Oktober – so der bisherige Zeitplan – das Parlament über die Kommission entscheidet, kann die das vorgeschlagene Personal nur komplett bestätigen oder komplett ablehnen. Wollen die Abgeordneten einen bestimmten Kommissar verhindern, müssen sie damit drohen, die ganze Kommission abzulehnen und Juncker dazu drängen, seinen Vorschlag zu ändern. In der Vergangenheit kam das schon einige Male vor. Zuvor müssen sich die Kandidaten je einer dreistündigen Befragung durch Fachpolitiker stellen. Die meisten dieser Befragungen sind bereits erledigt.
Ein sparunwilliger Franzose, ein bankenverstrickter Brite
Dass ein Kommissar abgelehnt wird, ist dann wahrscheinlich, wenn eine der großen Parteien, die sozialdemokratische SPE oder die konservative EVP sich gegen ihn stellen. Der Franzose Moscovici hätte als Wirtschafts- und Währungskommissar eine besonders wichtige Rolle und ist für die SPE darum kaum ersetzbar. Die zur EVP gehörende CDU hält ihn allerdings für ungeeignet.
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet, die SPE kritisierte verschärft den Briten Hill, um die EVP zu zwingen, Moscovici zu stützen. Beide sollen in der kommenden Woche noch einmal zur Befragung erscheinen. Hill sagte unter anderem zu wenig zu den umstrittenen Eurobonds – offenbar war er auf das Thema nicht vorbereitet. Hill ist zwar kein EVP-Mitglied, die EVP will sich aber wohl nicht unnötig mit den Briten anlegen. Und weil die SPE Hill noch einmal vorlud, zitierte die EVP auch Moscovici ein weiteres Mal herbei. Hill und Moscovici betonten in ihren Befragungen, wie loyal sie sich an Junckers Arbeitsprogramm halten würden. Juncker war als Kommissionspräsident immerhin der Wunschkandidat des Parlaments.
Enger Vertrauter Victor Orbáns
Sollte der Deal klappen, blieben mit dem Ungar Navracsics und dem Spanier Cañete zwei EVP-Mitglieder und mit der Schwedin Malmström eine Liberale als umstrittene Figuren.
Malmström hatte sich in der Befragung nicht klar gegen die höchst umstrittenen Investitionsschutzklauseln im TTIP-Abkommen ausgesprochen, obwohl Juncker ihr das angeblich aufgetragen hatte. Das kritisieren viele Abgeordnete. Ob sich allerdings ein anderer Kandidat findet, der in dem Punkt schon eine klare Haltung hat, ist fraglich. Außerdem kann es sich Juncker kaum leisten, noch eine Frau weniger in seinem Kabinett zu haben. In dem 28-köpfigen Team sind nur neun Frauen.
Cañete machte bei seinem Auftritt eine eher gute Figur, die bei einigen Abgeordneten Befürchtungen zerstreut haben könnte. Er versicherte glaubhaft, dass sowohl er als auch seine Verwandten aus dem Öl-Geschäft ausgestiegen seien. Allerdings verweigerte er es, entsprechende Aussagen über seinen Schwager zu machen.
Navracsics gab sich zwar als überzeugter Vertreter europäischer Werte. So erklärte er, er habe daraus gelernt, dass Ungarn auf den Druck der EU-Kommission hin das umstrittene Mediengesetz wieder ändern musste. Doch seine Glaubwürdigkeit steht in Frage. Er gilt als enger Vertrauter seines Ministerpräsidenten Victor Orbán, der noch einige andere Gesetze erlassen hat, die die Presse- und Meinungsfreiheit einschränken und Minderheiten diskriminieren.
Bratusek muss sich am Montag der Befragung stellen. Es wäre konsequent, die Liberale durchfallen zu lassen, damit die neue Regierungspartei in Slowenien, die in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelte SMC, einen neuen Kommissar schicken kann. Die Liberalen, aus deren Reihen Bratusek kommt, werden versuchen, das zu verhindern.
Oettinger als inkompetent kritisiert
Auch der Malteser Karmenu Vella war in der Kritik. Er soll sich gleichzeitig um Fischerei und Umwelt kümmern – Naturschützer fürchten, dass die Umwelt dabei regelmäßig zu kurz kommen wird. Außerdem soll er von seinem neuen Ressort bislang keine Ahnung haben. Doch bei der Befragung schlug er sich gut und die Abgeordneten scheinen nicht gewillt, Juncker einen neuen Zuschnitt des Ressorts abzuverlangen.
Die mangelnde Kompetenz muss sich auch Günther Oettinger vorwerfen lassen. Er bezeichnete es als "Dummheit", wenn im Internet Nacktfotos von Prominenten auftauchen. So jemand könne "doch nicht von uns erwarten, dass wir ihn schützen". Dabei waren die Fotos, auf die er anspielte, illegal von gehackten Online-Speicherdiensten heruntergeladen worden – und der Schutz solcher Daten ist sehr wohl Aufgabe Oettingers. Dass ihn das Parlament durchrasseln lassen wird, muss er allerdings nicht befürchten, dafür ist die deutsche Stimme in Brüssel zu stark.
Quelle: ntv.de