Politik

Presse-Echo zu Wagner-Aufstand "Niemand sollte sich zerfallendes Russland wünschen"

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Ist er nun komplett isoliert? Auch das fragen sich internationale Medien.

Ist er nun komplett isoliert? Auch das fragen sich internationale Medien.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Am Wochenende marschiert Söldner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seinen Wagner-Kämpfern auf Moskau zu, doch nach gerade einmal einem Tag beendet er den bewaffneten Aufstand. Die internationale Presse ist sich einig: Der klare Verlierer ist Kremlchef Wladimir Putin. Doch was bedeutet das für die Ukraine und die Welt?

Der "The Telegraph" (Großbritannien) stellt die Frage, wie sicher Russlands Atomwaffen eigentlich verwahrt sind: "Die unmittelbare Gefahr für Wladimir Putin ist gebannt, auch wenn allgemein davon ausgegangen wird, dass er geschwächt wurde. Die russische Bevölkerung, die von Anfang an mit Lügen über die Invasion in der Ukraine gefüttert wurde, muss sich allerdings fragen, wie es sein kann, dass eine schwer bewaffnete Truppe eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern fast unbehelligt einnimmt. Präsident Putins Unbehagen ist zwar erfreulich, aber niemand sollte sich ein zerfallendes Russland wünschen. Wenn das Chaos regiert, was wird dann aus dem russischen Atomwaffenarsenal? Zumindest während des Kalten Krieges wusste man, dass es unter starker zentraler Kontrolle stand. Prigoschins Rebellion zeigt, dass diese Waffen in die Hände einer bunt zusammengewürfelten Bande von Söldnern fallen könnten, die offenbar in der Lage sind, das Land nach Belieben zu durchqueren. Putin droht immer wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen, was nur von wenigen Analysten ernst genommen wird. Aber wissen wir, wie sicher die Bestände des Landes sind?"

Der "Guardian" (Großbritannien) sieht Putins Macht nachhaltig geschädigt: "Der russische Staatschef zog am Samstag Parallelen zu den Kriegsereignissen im Jahr 1917, die zur 'Zerstörung der Armee und des Staates' führten. Andere verwiesen auf 1991: Michail Gorbatschow konnte einen Putsch abwenden, aber weder seine Regierung noch die Sowjetunion überlebten den Rest des Jahres. Nur wenige gehen davon aus, dass Putin das gleiche Schicksal widerfährt. Aber seine Herrschaft über das Land war noch nie so bedroht wie heute. In den vergangenen 18 Monaten hat er zwei schwere Rückschläge einstecken müssen, die er selbst verursacht hat: den gescheiterten Versuch, Kiew einzunehmen und die Ukraine zu unterwerfen, und nun die Rebellion seines Schützlings mit Kräften, die Putin selbst in die Lage dazu versetzt hatte. Die Unsicherheit und die Demütigung könnten ihn noch gefährlicher machen. Prigoschins Aufstand scheint zwar beendet zu sein, aber die Folgen davon beginnen sich gerade erst zu entfalten."

Die Tageszeitung "Libération" (Frankreich) macht bei Putin nun einen "realen Grund" aus, "paranoid zu werden": "Die ganze Welt blickte - zum ersten Mal in seiner langen Regierungszeit - auf einen wankenden (russischen Präsidenten) Wladimir Putin. (...) Nicht nur, dass die Warnungen seiner Geheimdienste nicht funktionierten, auch (...) dass seine Truppen bei einer Invasion, die innerhalb von drei Tagen zusammengefaltet werden sollte, versagt haben, ist kein Geheimnis mehr. Der gedemütigte Wladimir Putin hat realen Grund, paranoid zu werden. Er weiß, dass seine Feinde auch auf seinem eigenen Territorium lauern. Und seit dem Aufstand von Prigoschin ist die ganze Welt zu dem Schluss gekommen, dass er sie nicht mehr unter Kontrolle hat. Die Ereignisse des 24. Juni könnten sich wiederholen. Clans, Fraktionen oder Privatarmeen ... Wer von seinen inneren Dämonen wird als Nächstes auf Moskau marschieren?"

Der "Corriere della Sera" (Italien) erklärt, dass die wahren Auswirkungen von Prigoschins versuchtem Marsch auf Moskau nicht sichtbar sind: "Moskau und seine Symbole werden nicht mehr attackiert. Es scheint sogar, dass sie es nie wurden. Nichts bleibt von diesem dramatischen Tag übrig, der eine Seite der Geschichte zu schreiben schien. Die Staatsnachrichten sind zu den üblichen Meldungen zurückgekehrt, am Morgen danach gibt es Kochsendungen. (...) Was von Wagners Marsch auf Moskau wirklich übrig geblieben ist, kann man mit bloßem Auge nicht sehen, aber man kann es spüren. Trotz seiner Kürze hat der Aufstand die Verwundbarkeit des Machtsystems von Putin gezeigt, indem er den Kern seiner Stärke getroffen hat. (...) Das Unentschieden, mit dem der Showdown endete, ändert nichts am Ausmaß dieser Wunde."

Das "Wall Street Journal" (USA) sieht einen günstigen Zeitpunkt für die Ukraine und rügt die Vereinigten Staaten: "Der Moment scheint reif für die Ukraine, ihre Sommeroffensive zu beschleunigen und weitere Gebiete von den Invasoren zurückzuerobern. Hätten die USA früher modernere Waffen bereitgestellt, wäre die Ukraine dazu besser in der Lage. Präsident (Joe) Biden beriet sich am Samstag mit den Staats- und Regierungschefs der G7 und bekräftigte seine unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine. Das ist die richtige Botschaft, aber F-16-Jets und andere Mittel sind noch Wochen oder länger von der Bereitstellung entfernt."

Die Tageszeitung "Hospodarske noviny" (Tschechien) wundert sich über die Rolle des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko: "Für den russischen Präsidenten Putin ist das ein erheblicher Prestigeverlust - nicht nur, weil eine Söldnertruppe bereits auf dem Weg nach Moskau war. In dem Konflikt vermittelte mit dem belarussischen Präsidenten Lukaschenko jemand, der in den Augen gewöhnlicher Russen bisher nur ein treuer Vasall des Kremls war. Wann wird sich die russische Armee an Lukaschenko mit der Bitte wenden, zum Beispiel einen Waffenstillstand in der Ukraine auszuhandeln oder einen friedlichen Rückzug Putins aus dem Amt zu arrangieren? Auf einmal erscheinen solche Überlegungen nicht mehr als reines Wunschdenken, sondern als etwas, das unter bestimmten Umständen eintreten könnte."

Dass Putin in seinem Machtapparat isoliert sei, hat "de Volkskrant" (Niederlande) formuliert: "Die Auswirkungen auf den Krieg gegen die Ukraine sind noch unklar. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Sonntag, der Aufstand von Prigoschin beweise, dass Putin "keine Kontrolle" über Russland und "offensichtlich große Angst" habe. (...) Doch außer Prigoschin scheint Putin vorerst keine Verbündeten innerhalb seines Sicherheitsapparates verloren zu haben. Putins Sprecher Dmitri Peskow sagte am Sonntag, der Krieg gegen die Ukraine gehe unverändert weiter. Er weigerte sich, zu Gerüchten über bevorstehende Entlassungen innerhalb der Armeespitze Stellung zu nehmen - Prigoschin hatte vor allem den Abgang von Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow gefordert. Man kann davon ausgehen, dass Putin die Repressionen in Russland verschärfen wird, weil er eine Neuauflage der Revolte von Prigoschin befürchtet. Er weiß, dass Revolutionen in Russland manchmal erst im zweiten Anlauf gelingen. Und sein wichtigstes Versprechen an das russische Volk lautet seit 23 Jahren: keine Revolution."

"Der Standard" (Österreich) mutmaßt über die Rückkehr eines Gespenstes: "Was geschieht nun? Unwahrscheinlich, dass sich die Wagner-Kämpfer der regulären Armee unterstellen werden. Eher werden sie sich in Belarus unter ihrem Chef Prigoschin versammeln. Zu welchem Zweck auch immer. Nicht unwahrscheinlich ist, dass Putin seinen Verteidigungsminister Schoigu und dessen Generalstabschef Gerassimow entlässt. Hardliner könnten an die Macht kommen. Für die Ukraine wäre das keine gute Perspektive. Und für Putin eine nicht sehr populäre Entscheidung, nicht einmal ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl. Die Wahl wird er wohl gewinnen, einen wirklichen Nachfolger gibt es nicht. Aber was kommt dann? Scheitert Putin, droht in Russland ein Bürgerkrieg. Das Gespenst des Chaos der 90er-Jahre steht im Raum. Machtkämpfe, politische Morde. Diesmal allerdings mit diversen Privatarmeen. Dann würde sich der Westen Putin wohl händeringend zurückwünschen. Auch damit die Atomwaffen unter Kontrolle blieben."

Die Boulevardzeitung "Verdens Gang" (Norwegen) kommentierte so: "Die Spuren dieses Tages lassen sich nicht wegwischen. Alle konnten sehen, dass Putin unter gewaltigen Druck gesetzt wurde. Der Propagandaapparat konnte nicht länger verbergen, dass Russland gespalten und die Unzufriedenheit mit dem Krieg groß ist. Putin wirkte verletzlicher als jemals zuvor in seiner Zeit als Präsident. Und kaum etwas ist für einen Autokraten demütigender, als verletzlich zu wirken. Er wurde gezwungen, denjenigen Straffreiheit zu geben, denen er wenige Stunden zuvor noch Verrat vorgeworfen hatte. Er musste stillschweigend akzeptieren, dass Prigoschin den Russen die Wahrheit über die falsche Begründung für den Krieg erzählt hat."

Quelle: ntv.de, ses/dpa

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