Historisches Mauerfalldatum Ostdeutsche sind keine unmündigen Idioten
05.02.2018, 11:58 Uhr
Heute sind die Reste der Berliner Mauer Gedenkstätte und Touristenmagnet.
(Foto: imago/Jürgen Ritter)
Die Berliner Mauer ist seit heute so lange weg, wie sie einst stand. Nun ist es an der Zeit, die Ostdeutschen weder zu glorifizieren noch sie zu diffamieren. Bashing der West-Eliten im Osten hilft dabei nicht.
Es waren einmal ein Land, eine Stadt und ein Volk, die von einer todbringenden Mauer geteilt waren. Nach der Prophezeiung ihrer Erbauer sollte sie ewig stehen. Doch das Volk auf der östlichen Seite der Mauer war ihres Anblickes müde und brachte sie nach 10.316 Tagen zum Einsturz. Das Land, die Stadt und das Volk waren endlich wieder vereint und … Stopp! An der Stelle muss das Märchen leider vorzeitig enden – der für wundersame Geschichten übliche Schluss "und lebten glücklich miteinander" muss erst noch geschrieben werden.
Am Montag, dem 5. Februar 2018, gibt es die Mauer genauso lange nicht mehr, wie sie einst existierte. Das ist ein Grund zu großer Freude. Sogar weltweit. Denn mit ihr verschwand die konfrontative globale Ordnung, in der sich zwei verfeindete, hochgerüstete Blöcke Tag für Tag mit Atomwaffen bedrohten. Aber ein Märchen mit Happy End sind leider weder der Fall der Mauer noch der des Eisernen Vorhangs. Der damals verkündete Sieg der Demokratien westlicher Prägung erwies sich als verfrüht. Autokratien mit Führern, die Menschenrechte missachten oder abschaffen und nicht einmal vor Waffengewalt zurückschrecken, erleben ein Comeback.
Übersichtlichkeit ging verloren
Der Mauerfall war der Katalysator der Globalisierung. Der Eiserne Vorhang hatte die Welt übersichtlicher und leichter erklärbar gemacht. Er teilte sie in gut und böse, schwarz und weiß. Jeder konnte sich seiner Weltanschauung entsprechend entscheiden, welche Himmelsrichtung, Ost oder West, er als gut und als böse betrachtete. Heute ist die Welt voller Farben. Alle Versuche, diese kunterbunte Palette mit dem Mittel der Schwarz-Weiß-Malerei darzustellen, führten und führen zu politischer Fragmentierung und Polarisierung.
Wahrscheinlich rührt daher die Sehnsucht nach dem Führer – und damit ist um Gottes Willen kein Hitler gemeint –, der die enorm komplexe und aus den Fugen geratene Welt wieder zusammensetzt und begreifbar macht. Möglicherweise ist sie im Osten stärker als im Westen. In der DDR existierte keine echte individuelle Verantwortung des Bürgers für sich selbst und sein (Un-)Glück. Der Staat nahm sie ihnen ab und erzeugte damit ein trügerisches Gefühl von Rundumversorgung. Die SED erklärte den Einheitsbrei zum "Kollektiv". Individualismus fand lediglich im Privaten statt. Ansonsten verschwand alles in der Masse. Noch nicht einmal Verantwortliche für die Misere konnte man konkret benennen. Honecker? Das Politbüro? Die gesamte SED? Oder doch Moskau? Nein, es waren "die da oben".
Sehnsucht nach der starken Hand
Kurz vor der ersten und letzten demokratischen Wahl zur DDR-Volkskammer am 18. März 1990 appellierte ein Plakat auf einer Demonstration in Leipzig an den "Kanzler der Einheit": "Helmut, nimm uns an die Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland." Bereits Anfang 1990, also wenige Wochen nach der Wende, stand schon nicht mehr der Ruf nach Freiheit und Demokratie im Mittelpunkte der Proteste, sondern der Wunsch nach Wohlstand. Der anmaßende Spruch war möglicherweise die Idee der PR-Strategen von Helmut Kohls CDU. Dennoch war der Slogan, der die Noch-DDR-Bürger zu Kindern degradierte, Ausdruck der Stimmung im ostdeutschen Volk, es möge jemand kommen und alles richten.
Dass ein älterer Pegida-Aktivist in Dresden beinahe drei Jahrzehnte später ein Schild mit "Putin hilf" durch die Gegend trug, ist sicherlich ebenfalls Ausdruck dieser Haltung, die eng verknüpft ist mit ausgeprägtem Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Das urplötzliche Ende der Vollversorgungsmentalität und der völlig unvorbereitete Eintritt in eine neue Gesellschaftsordnung war für Hunderttausende DDR-Bürger ein traumatisches Erlebnis, das bis heute nicht bewältigt ist.
Lebensleistungen waren nichts mehr wert
Zumal sie schnell merkten, dass Wahlkämpfer nicht immer halten, was sie versprechen. Kohls gut gemeinte, aber ökonomisch absurde Zusage, er werde den Osten in blühende Landschaften verwandeln, ist nicht die Wurzel allen Übels. Aber sie hat die Wurzel jahrelang mit Nährstoffen versorgt. Unzählige Ostdeutsche verloren das Vertrauen in die Politik. Was nutzte Reisefreiheit, wenn es an Geld für Reisen fehlte? Die Ostdeutschen möchten garantiert nicht die DDR zurück und schon gar nicht die Mauer, an der allein in Berlin 139 Menschen sinnlos starben. Die älteren Generationen wollen aber, dass die Leistung ihres Lebens – sie hatten ja nur dieses eine und keine Wahl, in welches Land sie geboren werden – anerkannt wird.
Der Treuhand muss man zugutehalten, dass sie kein Vorbild kannte, wie man vernünftig eine Planwirtschaft privatisiert. Nimmt man die Milliardenbeträge zum Maßstab, die der deutsche Staat in die Bankenrettung zwecks Bewältigung der Finanzkrise vor knapp zehn Jahren gesteckt hat, erscheint ihre Arbeit dennoch in einem traurigen Licht. Dass ältere Generationen im Osten diese Zeit der Deindustrialisierung des Ostens als "Plattmachen" ihrer Lebensleistung betrachten, ist kaum verwunderlich und erklärt vielleicht auch, warum viele Ostdeutsche bis heute unfähig zur Dankbarkeit sind, was wiederum zu Verbitterung im Westen führte.
Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West sind mittlerweile auf ein Minimum geschrumpft. Selbst der Klang des sächsischen Dialekts führt im Westen nicht mehr sofort zu der scheinheiligen Frage: "Sie sind aber nicht von hier, oder?" Gravierend ist allerdings nach wie vor die Verteilung der ökonomischen Kraft, die im Osten klar niedriger ist. Aufschwung hin, Aufschwung her: Die Arbeitslosigkeit ist dort höher, die Löhne und Renten sind knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall niedriger.
Verengter Blick auf den Osten

Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Unterschiede zwischen Ost und West vielerorts auch noch im Straßenbild erkennbar.
(Foto: imago/Winfried Rothermel)
Trotzdem muss dieser ewige Blick auf den Osten als quasi homogene Einheit ein Ende haben, weil er zu sehr verengt. Selbst gutgemeinte Appelle oder Klartextreden wirken da eher kontraproduktiv, da sie die berühmt-berüchtigte Teilung in den Köpfen verfestigt und Ostdeutsche weiterhin zu unmündigen Bürgern und hilfsbedürftigen Verlierern, wenn nicht sogar zu Idioten erklären.
Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, ein Ostdeutscher, hat kürzlich in der "Berliner Zeitung" eine (mutmaßliche oder tatsächliche) Vormachtstellung westdeutscher Eliten im Osten beklagt. "Auch wenn es auf den ersten Blick mit Angela Merkel als Kanzlerin und dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck anders aussieht: In der Fläche wird die Dominanz der Westdeutschen in den Eliten immer noch als kultureller Kolonialismus erlebt."
Das ist starker Tobak, erst recht, wenn man sich die Definition von Kolonialismus vor Augen führt. Der Duden umschreibt ihn als eine auf Eroberung fremder Länder gerichtete "Politik unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlichen, militärischen und machtpolitischen Nutzens für das Mutterland bei gleichzeitiger politischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Ausbeutung der abhängigen Völker".
Ost-Karrieren gibt es auch im Westen
Merkel ist nicht Kanzlerin geworden, weil sie eine Ostdeutsche, sondern weil sie eine clevere, taktisch geschickte und machtbewusste Politikerin ist. Gauck zeichnet sich nicht durch seine Herkunft aus, sondern durch Eloquenz, Klugheit und Mitmenschlichkeit. Vor allem unterschlägt Krüger, dass unzählige Ostdeutsche im Westen in Verwaltung, Justiz, Wissenschaft und Wirtschaft Karriere gemacht haben, weil es an entsprechenden Angeboten im Osten fehlt(e).
Außerdem: Die ehemaligen DDR-Eliten waren ausdrücklich – so war es politisch gewollt – nach der Wende von Leuten aus dem Westen ersetzt worden. Sich nun darüber zu mokieren, ist genauso sinnlos wie der Vorschlag des Präsidenten der Kultusministerkonferenz, Thüringens Bildungsminister Helmut Holter (Linke), einen Schüleraustausch zwischen Ost und West zu initiieren. Warum schicken wir keine Flensburger in Schwarzwälder Schulen, damit die sich näher kommen? Der Schlüssel liegt im gegenseitigen Zuhören und Verstehen unabhängig von Wohnort und Dialekt. Wenn wir das schaffen, wird das Märchen vom Mauerfall noch sein Happy End finden.
Quelle: ntv.de