Politik

Reisners Blick auf die Front "Russland möchte zeigen, dass es über Weltuntergangswaffen verfügt"

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Inszenierung als starker Führer: Putin befragt Generalstabschef Gerassimow, das Staatsfernsehen überträgt.

Inszenierung als starker Führer: Putin befragt Generalstabschef Gerassimow, das Staatsfernsehen überträgt.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Russland reagiert auf den Druck von US-Präsident Donald Trump - und demonstriert seine atomare Feuerkraft. In seinem wöchentlichen Interview mit ntv.de ordnet Oberst Markus Reisner den neuen russischen Marschflugkörper ein. Im Osten der Ukraine, warnt Reisner, spitze sich die Lage zu: In drei Städten könnten ukrainische Truppen eingekesselt werden.

ntv.de: Russlands Staatschef Putin hat zum Verdruss von US-Präsident Trump einen neuen, nuklear angetriebenen Marschflugkörper testen lassen. Was wollte uns Putin damit zeigen?

Markus Reisner: Putin reagiert auf den von der US-Regierung langsam erhöhten Druck. Dieser Druck resultiert einerseits aus den in der vergangenen Woche verhängten Rohstoffsanktionen gegen Russland, andererseits aus der Bedrohung Russlands durch westliche Marschflugkörper. Der kürzlich durchgeführte ukrainische Angriff auf das wichtige Munitionswerk in Brjansk wurde von den Russen mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow oder Scalp in Zusammenhang gebracht. In sozialen Medien wurde von entsprechenden geborgenen Trümmern gesprochen. Das scheint Medienberichte zu bestätigen, wonach Washington derartige Angriffe auf das russische Hinterland erlaubt und aktiv mit Zieldaten unterstützt. Putin reagiert nach bekanntem Muster.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.

(Foto: privat)

Und zwar?

Schon auf die Cherson-Offensive im Sommer 2022 oder auf das Vorrücken der Ukrainer in der russischen Region Kursk am Ende der Biden-Regierung hat Russland ähnlich reagiert. Bei Kursk kamen drei Mal westliche Marschflugkörper gegen Ziele in Russland zum Einsatz. Moskau ließ daraufhin eine Mittelstreckenrakete starten und es gab hybride Angriffe gegen den Westen. Auch diesmal wurde öffentlichkeitswirksam ein neuer Marschflugkörper namens Burevestnik (zu Deutsch: Sturmvogel) getestet. Der Erfolg des jüngsten Raketentests ist allerdings unbewiesen.

Weil?

Man weiß noch nicht, ob der Test tatsächlich stattgefunden hat. Ein atomgetriebenes Raketentriebwerk verursacht messbar erhöhte Radioaktivität. In den kommenden Tagen müsste sich diese erhöhte Radioaktivität zeigen. Die Messungen stehen noch aus.

Was brächte so eine Waffe für einen Vorteil, wenn sie denn funktioniert?

Russland möchte zeigen, dass es über Weltuntergangswaffen verfügt. Die Idee hinter so einem atomgetriebenen Marschflugkörper großer Reichweite ist, dem Gegner zu vermitteln "Wir können euch jederzeit überraschend treffen, auch mit Atombomben". Die Russen wollen so das Gleichgewicht des Schreckens aufrechterhalten und die Amerikaner von einem größeren militärischen Eingreifen abhalten.

Funktioniert das?

Zumindest hat Trump nach dem Test vehement bestritten, Angriffe mit westlichen Waffen in Russland ermöglicht zu haben. Die USA erhöhen den Druck auf Russland lieber behutsam - auch mit der Ankündigung weiterer Sanktionen. Die Hoffnung ist, dass Russland wirtschaftlich zum Einknicken bewegt werden kann und nicht militärisch. Immerhin: Trump scheint die Geduld mit Putin verloren zu haben.

Die neuen US-Sanktionen führen zu einem Absatzeinbruch russischen Öls in Indien und China. Damit steht den russischen Streitkräften wohl vorerst genügend Treibstoff zur Verfügung, oder?

Ja, das ist die schlechte Nachricht. Die ukrainischen Angriffe auf russische Anlagen sollen die Erdölproduktion um bis zu 25 Prozent reduziert haben. Aber auch mit den bisherigen Großabnehmern China und Indien war das für die russische Armee kein Problem. Vielmehr fehlte das Benzin der russischen Bevölkerung, die an Tankstellen lange Schlangen bildete. Zudem braucht es für das Kriegsgeschehen in der Ukraine keine großen Treibstoffmengen. Mechanisierte Einheiten sind an der Front kaum in Bewegung. Stattdessen stoßen die Russen in kleinen Gruppen zu Fuß vor.

Präsident Selenskyj sagte, seit Jahresanfang habe Russland 770 ballistische Raketen und 50 Kinshal-Hyperschallraketen auf die Ukraine gefeuert. Die Intensität der russischen Angriffe war in den letzten Tagen hoch. Wie hält sich die Ukraine?

Selenskyj hat noch zwei weitere bemerkenswerte Dinge gesagt. Er hat erstens gewarnt, dass Russland auf eine humanitäre Katastrophe in der Ukraine abziele. Russland greift ja nicht nur erfolgreich städtische Infrastruktur, einschließlich der Gas- und Stromversorgung an. Jetzt kommen auch noch Wasserkraftwerke dazu. Zweitens hat Selenskyj seine Bereitschaft zu einem Einfrieren des Frontverlaufs bekräftigt. Das zeigt, wie sehr sich die Lage für die Ukraine zuspitzt. Bei den Angriffen auf Kiew ist die Art und Weise der russischen Drohnenangriffe sehr ausgeklügelt. Die Drohnen kommen inzwischen aus allen Richtungen - aus 360 Grad - im Tiefflug an, steigen dann steil auf, um im Sturzflug herunterzustürzen. Das machen über einem Ziel oft mehrere Drohnen gleichzeitig, was für die Flugabwehr unheimlich schwierig abzufangen ist.

Kiew muss die Luftverteidigung aufteilen, um die Hauptstadt und die im Land verstreute Energieinfrastruktur zu schützen?

Ja, und das ist aus meiner Sicht eine unerträgliche Herausforderung. Was oft übersehen wird: Das vorhandene Material wird für den Schutz des Hinterlandes verwendet, für den Schutz der Städte und der noch nicht zerstörten Teile der kritischen Infrastruktur. Die Flugabwehr fehlt deshalb an der Front, wo die Russen Monat für Monat den Einsatz von Gleitbomben steigern. In den schwer umkämpften Gebieten werfen russische Flugzeuge aus sicherer Entfernung bis zu eintausend Bomben in der Woche ab. Die neuen Gleitbomben der Russen haben chinesische Triebwerke und lassen sich sogar aus 200 Kilometern Distanz zum Ziel abwerfen.

Die aktuellen Verstimmungen zwischen Berlin und Peking sind offenbar auch der deutlichen Kritik aus Deutschland an Chinas Waffenhilfe für Russland geschuldet. Sind diese neuen Gleitbomben ein Beispiel für Pekings direkte militärische Unterstützung?

Die in den Gleitbomben verwendeten Triebwerke sind eindeutig für militärische Zwecke entwickelt worden. Es handelt sich um ein Turbojet-Triebwerk des chinesischen Herstellers Telefly. Das kann zu unterschiedlichsten Zwecken verwendet werden, dient aus meiner Sicht aber vorrangig militärischen Zwecken. Das gleiche Triebwerk wird auch in Geran-3 verbaut, große Drohnen mit mehreren hundert Stundenkilometern Angriffsgeschwindigkeit und bis zu 100 Kilogramm schweren Sprengköpfen. China setzt Russland im globalen Schachspiel mal als Dame ein, mal als Springer oder als Turm. Solange es in Pekings Interesse ist, wird Russland mit dem beliefert, was es für eine Fortsetzung des Kriegs braucht.

Seit Wochen sprechen wir über sechs Orte entlang der Front, denen die Einkesselung droht. Wie hat sich das Kampfgeschehen am Boden entwickelt?

In drei Städten spitzt sich die Lage immer mehr zu: in Kupjansk, Siwersk und in Pokrowsk. Kupjansk steht akut vor der Einkesselung. Die Ukraine muss nun versuchen, ihre Kräfte aus der Stadt herauszubekommen. Im russischen Fernsehen hat Generalstabschef Gerassimow in einer Unterrichtung Putins gesagt, in Kupjansk seien Dutzende ukrainische Bataillone eingekesselt worden. Dafür gibt es noch keine Anzeichen, aber die Lage ist wegen der Glasfaserdrohnen fraglos schwierig.

Warum?

Weil jede Bewegung beobachtet und bekämpft wird. Auch wenn die Zangenbewegung noch nicht zuschnappt, verbleiben kaum Wege aus der Stadt heraus. Diese sind für die Russen aus der Luft leicht zu beobachten, und was sich bewegt, wird attackiert. Die Ukrainer versuchen offenbar seit Wochen, in kleinen Gruppen aus Kupjansk herauszukommen. In Siwersk ist die Lage ähnlich schwierig: Die Russen versuchen die Ukrainer offenbar bis nach Slowjansk und Kramatorsk zurückzudrängen, wo die nächsten ukrainischen Verteidigungslinien sind. Dass ihnen das vor dem Winter gelingt, glaube ich aber nicht.

Und in Pokrowsk?

Dort ist es weiteren russischen Soldaten gelungen, in kleinen Gruppen in die Stadt einzusickern. Die Russen behaupten, sie hätten in und südostwärts von Pokrowsk Dutzende ukrainischer Bataillone eingeschlossen, die Ukrainer widersprechen. Es gibt jedenfalls keine Belege dafür und die Ukraine hatte schon damit begonnen, sich aus der Stadt abzusetzen. Auch Pokrowsk wird über kurz oder lang fallen.

Worauf gründet der aus russischer Sicht langsame, aber stetige Erfolg?

Die Russen dringen mit ihrer Stoß- und Sturmtaktik in kleinen Gruppen möglichst unerkannt von Drohnen in den Städten vor. Das gelingt im zerschossenen urbanen Raum leichter als in offenem Gelände. So machen es die Russen in Pokrowsk, Kupjansk, Siwersk genauso wie bei Lyman und auch in Kostjantynivka und Nowopawliwka. Die Ukrainer sagen, die Russen sind wie Wasser: Sie dringen durch alle Ritzen und sickern in die Städte ein. Zugleich sind die Abstände zwischen den ukrainischen Posten immer größer, weil die Truppe weiter ausdünnt.

Für die russischen Soldaten ist das dennoch ein extrem riskantes Vorgehen.

Der russischen Führung sind aber die Verluste in den eigenen Reihen egal. Es geht auch nicht unbedingt darum, gleich den Raum zu kontrollieren. Die Russen haben oft Fahnen dabei und werden dann von Drohnen aus der Luft gefilmt. Die Aufnahmen werden dann in den sozialen Netzwerken verbreitet. So sollen die ukrainischen Soldaten den Eindruck gewinnen, die Stadt sei schon voller Russen. Nicht vergessen: Die Soldaten beider Seiten beobachten einander auf den gleichen Social-Media-Plattformen - wenn sie denn ein Handy im Einsatz dabeihaben.

Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld

Quelle: ntv.de

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