Politik

Kanzler-Biograph "Schröder stammt aus 'asozialem' Milieu"

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(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

An diesem Montag erscheint eine Biographie über Gerhard Schröder. Die Karriere des Altkanzlers sei "sensationell, wenn man bedenkt, aus welchem Milieu er kommt", sagt ihr Autor, der Historiker Gregor Schöllgen. Schröder selbst musste beim Lesen des Buches gelegentlich schlucken.

n-tv.de: Sie gehen in Ihrer Biographie von Gerhard Schröder bis in seine Kindheit zurück. Haben Sie da etwas Neues herausfinden können?

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Gregor Schöllgen lehrt Neuere Geschichte an der Universität Erlangen.

(Foto: privat)

Gregor Schöllgen: Allerdings, aber ich fange sogar noch früher an, bei den Eltern und Großeltern, soweit sich deren Geschichten aus den Quellen rekonstruieren lassen. Schröder wusste so gut wie nichts über seinen Vater, der im Krieg gefallen ist. Jetzt weiß er einiges. Zum Beispiel auch über seine Großeltern. Seine 2012 verstorbene Mutter wusste nicht einmal, wer ihr Vater war. Jetzt kennt Gerhard Schröder diese Geschichte. Ich habe sie ihm im Laufe der Jahre Stück für Stück erzählt. Das hat ihn bewegt.

Was ist das für ein Milieu, aus dem Schröder kommt?

Es ist ein randständiges Milieu, das man früher als "asoziales" Umfeld beschrieben hat. Schröder kommt jedenfalls vom unteren Ende der Gesellschaft. Ich dachte immer, Willy Brandt sei aus ungeordneten Verhältnissen gekommen. Das trifft auch zu. Aber im Vergleich zu Schröder hatte Brandt einen geradezu privilegierten Hintergrund.

Hat Schröder sich ein Bewusstsein für seine Herkunft bewahrt?

Ja, unbedingt.

Das ist keine Koketterie?

Überhaupt nicht. Natürlich beherrscht Schröder auch die Koketterie. Aber er war immer auch stolz auf seine Herkunft, denn nur wenn man sie kennt, kann man den beispiellosen Aufstieg ermessen, den der Mann hinter sich hat.

Im Mai sah eine Umfrage Schröder in einem Ranking der "besten Kanzler" auf dem sechsten Platz, hinter Schmidt, Merkel, Adenauer, Brandt und Kohl. Eine faire Bewertung?

Nein, ganz sicher nicht. Schröder spielt in einer Liga mit Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Schmidt, sagte mir der jüngst verstorbene Altbundespräsident Richard von Weizsäcker. Helmut Kohl erwähnte er nicht, und über die Kanzlerschaft Angela Merkels kann man natürlich noch kein abschließendes Urteil fällen.

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Mit Gerhard Schröder, Joschka Fischer und Oskar Lafontaine übernahm die Generation der 68er die politische Führung - obwohl Schröder selbst kein 68er war.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Klassischerweise werden die großen Bundeskanzler auf ein oder zwei Stichwörter reduziert: Adenauer ist der Kanzler der Westbindung, Brandt der Kanzler der Ostpolitik, Kohl der Kanzler der Einheit und der Vater des Euro. Was ist Schröder?

Bei Schröder sind es zwei große Leistungen. Das eine ist, dass er als erster Bundeskanzler von der souveränen Rolle Gebrauch machte, die Deutschland mit der Wiedervereinigung zugefallen ist. Am markantesten zeigte sich das bei seiner Ablehnung einer deutschen Beteiligung am Irak-Krieg der Amerikaner. Das war eine sehr weitreichende Entscheidung, weitreichender, als man damals glaubte. Danach konnte Schröder, wie natürlich auch seine Nachfolgerin, diese Rolle viel unbefangener wahrnehmen – verantwortungsbewusst, aber eben auch selbstbewusst. Das bleibt eine große Leistung.

Wie riskant war die Ablehnung des Irak-Kriegs seinerzeit?

International war Schröder zunächst völlig isoliert. Kein Mensch weiß, was passiert wäre, wenn sich nicht der französische Präsident Jacques Chirac und dann auch Russlands Präsident Wladimir Putin auf seine Seite gestellt und andere, wie die Chinesen, nicht seine Position geteilt hätten. Ich habe für das Buch mit rund 50 Zeitzeugen über Gerhard Schröder gesprochen, auch mit Oskar Lafontaine. Selbst ihm war es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es Entscheidungen gibt, die er an Schröders Kanzlerschaft richtig findet – vor allem das Nein zum Irak-Krieg.

Als Oppositionsführerin hat Angela Merkel Schröder damals vorgeworfen, Deutschland auf einen Sonderweg zu führen.

Vor einem USA-Besuch Anfang 2003 schrieb sie in der "Washington Post", Gerhard Schröder spreche "nicht für alle Deutschen". Das ging schon sehr weit. Das war eine ausdrückliche Distanzierung von der Politik des Bundeskanzlers. Andererseits ist es so: Wenn am Ende tatsächlich, wie von den Amerikanern behauptet, Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden worden wären, hätte Schröder zurücktreten müssen. Das war ihm völlig klar.

Sie sprachen von zwei Dingen, die Schröders Kanzlerschaft groß machen.

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Protest im August 2004. Die Agenda 2010 verhalft Oskar Lafontaine zu einer zweiten Karriere als Politiker.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Die zweite große Leistung ist natürlich die Agenda 2010. So umstritten sie bis heute ist: Das war eine herausragende Leistung. Das internationale Ansehen, das Schröder heute genießt, geht auch auf dieses Reformprogramm zurück. Nebenbei hat Schröder damit dokumentiert, dass die 68er, denen er selbst im eigentlichen Sinne ja nie angehört hat, das in sie gesetzte Vertrauen nicht missbrauchten, wie viele angenommen hatten, sondern dass sie die Verantwortung für dieses Land ohne Wenn und Aber annahmen. Das ist eine große Geschichte.

Warum war Schröder eigentlich kein 68er?

Das hat er mir plausibel erklärt: Die 68er haben der Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik nicht ohne Grund vor allem ihre soziale Schieflage und ihre verkrusteten Strukturen vorgehalten. Für Schröder stellte sich das ähnlich dar. Allerdings hatte ihm diese Gesellschaft auch die Chance gegeben, über den zweiten Bildungsweg das Abitur zu machen, zu studieren, Rechtsanwalt zu werden. Allein diese Karriere ist sensationell, wenn man bedenkt, aus welchem Milieu er kommt. Warum hätte er eine Gesellschaft fundamental infrage stellen sollen, die ihm solchen Chancen gegeben hatte? Die Reform dieser Gesellschaft war und ist ein anderes Thema.

Eine idealtypische sozialdemokratische Haltung.

Nur dass die meisten Sozialdemokraten seiner Generation aus ganz anderen Verhältnissen kamen.

Als Bundeskanzler wäre Schröder fast schon nach seiner ersten Legislaturperiode abgewählt worden, die zweite hat er nicht vollständig geschafft. Ist er nicht auch daran gescheitert, dass er die Agenda 2010 nicht in eine Erzählung eingebettet hat, die für seine Partei und seine Wähler funktionierte?

Anders, als es die heutige Wahrnehmung will, ist Schröder damals im Rahmen des Möglichen durchaus in die Kommunikation gegangen, allerdings verstärkt erst nach der Präsentation seiner Agenda im Bundestag. Ich habe Helmut Schmidt gefragt, ob dieses Reformprogramm – das auch Schmidt für eine von Schröders großen Leistungen hält – eine Chance gehabt hätte, wenn Schröder sie erst auf einem SPD-Parteitag vorgestellt hätte. Schmidt antwortete: Ausgeschlossen! Wenn Schröder die Agenda vor der Verlesung in seiner Partei zur Diskussion gestellt hätte, wäre sie gescheitert. Der Druck, unter dem die Bundesregierung damals stand, war immens. Die Agenda 2010 wurde fast gleichzeitig mit der schwierigen Positionierung zum Irak-Krieg entwickelt, und das in sehr kurzer Zeit. Dann musste sie umgesetzt werden, ebenfalls unter Hochdruck. Schröder ist ein Mann, der das Wort Überforderung eigentlich nicht kennt. Aber damals stieß er an seine Grenzen. Auch deshalb gab er 2004 auch das Amt des SPD-Vorsitzenden an Franz Müntefering ab.

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Die "Bild"-Zeitung lobte Schröder für seinen Abgang - aus Sicht seiner Nachfolgerin war dies ein Fehler, der ihr nie unterlaufen wäre.

(Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb)

War es ein Fehler, dass Schröder 2005, nach der für die SPD verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen, im Bundestag die Vertrauensfrage stellte und so für Neuwahlen sorgte?

Seine Nachfolgerin hält diesen Schritt für einen Fehler, der ihr nicht passiert wäre: Schröder hätte eigentlich nur warten müssen, bis die Reformen griffen. Außerdem stand die Fußball-WM ins Haus, die Schröder ja nach Deutschland geholt hatte.

Das hat sie Ihnen gesagt?

Ja. Rückblickend war diese Entscheidung natürlich ein Fehler, denn Schröder verlor die Kanzlerschaft. Aber ich kann ihn heute besser verstehen als vor meiner Arbeit an seiner Biographie. Schröder wandte sich damals vor allem an die eigenen Leute. Es war ein Appell an die SPD: Zieht endlich mit, und zwar alle! Zu diesem Zeitpunkt war die Grenze der Belastbarkeit erreicht.

Am Wahlabend, in der berühmten Elefantenrunde am 18. September 2005, hat Schröder dann getönt, Merkel habe die Wahl verloren und niemand außer ihm sei in der Lage, eine stabile Regierung zu bilden.

Ich habe Schröders ältere Schwester auf diese Szene angesprochen. Sie sagte, ihr sei sofort klar gewesen: Das geht schief. Sie kannte das Verhaltensmuster, nach dem Motto: "Ihr könnt mich alle mal." Tatsächlich war ja Schröders Ausbruch weniger gegen die Herausforderin gerichtet, für die das Wahlergebnis ein Debakel gewesen ist, sondern gegen die beiden Chefredakteure in der Runde, denen er stellvertretend für die gesamte Zunft vorhielt, mit Hochrechnungen Wahlkampf getrieben zu haben.

Hatte Schröder getrunken?

Nein. Das war eine Testosteron-Eruption. Es war aber auch wirklich eine besondere Situation. Monatelang stand Schröder unter immensem Druck. Selbst Teile seiner eigenen Partei hatten ihn im Stich gelassen. Fast alle anderen waren sowieso gegen ihn. Und alle sagten: Das schafft der nie. Und dann kommt er fast ran: Die SPD erreicht 34,2 Prozent, nur einen Punkt weniger als die Union. Aus heutiger Sicht ist das für die SPD ein nie mehr erreichtes Traumergebnis. Jedenfalls im Bund.

Schröder galt als "Basta-Kanzler". Wäre eine solche Form der politischen Kommunikation heute noch zeitgemäß?

Das ist so nicht richtig. Schröder hat diesen Ausdruck ein einziges Mal benutzt, auf einem Gewerkschaftstag Ende Juni 2000, als er die massive Kritik an der geplanten Rentenreform zurückwies. Da sagte er: "Das ist notwendig, und wir werden es machen. Basta!" Für Diskussion war angesichts des gewaltigen Reformdrucks einfach kein Spielraum. Die Regierung Kohl hatte das ja fast alles unerledigt liegen lassen.

Wie beurteilen Sie Schröders heutige Arbeit? Ist es in Ordnung, wenn ein ehemaliger Bundeskanzler bei einem Unternehmen beschäftigt ist, das einem Staat gehört, der erhebliche demokratische Defizite hat?

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Schröder sieht Putin als seinen Freund an.

(Foto: picture alliance / dpa)

Ich sehe da kein Problem, denn Schröder arbeitet ja nicht für den russischen Staat. Er ist Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG, an der das russische Staatsunternehmen Gazprom zwar die Aktienmehrheit von 51 Prozent hält, an der aber mit Wintershall und Eon zwei deutsche, außerdem ein niederländisches und ein französisches Unternehmen beteiligt sind. Im Übrigen stammt die Idee für die Ostseepipeline ja nicht von Schröder, sondern sie wurde 1999 im Ostseerat diskutiert, und es waren vor allem die Finnen, die den Bundeskanzler schließlich überzeugten, das Vorhaben politisch zu unterstützen. Ob Schröder gut beraten war, den Posten wenige Wochen nach dem Ende seiner Kanzlerschaft zu übernehmen, sei einmal dahingestellt. Er selbst schildert es so, dass Putin die Information nicht für sich behalten wollte, weil er stolz darauf war, den Exkanzler für das Projekt gewonnen zu haben. Meine Gesprächspartner, ganz gleich welchen Parteien sie angehören, sagten: Wenn Schröder ein bisschen gewartet hätte und sich vielleicht von seiner Nachfolgerin für den Posten hätte vorschlagen lassen, dann hätte das ganz anders ausgesehen.

Wie sehen Sie Schröders Verhältnis zu Putin?

Er betrachtet ihn als Freund. Vielleicht hat er zu lange geglaubt, man könne den Reformer in Putin stärken, wenn man ihn unterstütze. In seinen ersten Jahren als Präsident galt Putin ja allgemein als aufgeklärter Nationalist und nach der zuletzt bleiernen Ära Jelzin als Hoffnungsträger.

Welche Rolle spielt Schröder Privatleben aus jüngster Zeit in Ihrem Buch?

Eine große.

Hat Gerhard Schröder Ihr Buch schon gelesen?

Ja.

Wie hat es ihm gefallen?

Das müssten Sie ihn selbst fragen. Aber ab und an hat er wohl geschluckt und sich gefragt: War ich wirklich so?

Mit Gregor Schöllgen sprach Hubertus Volmer

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Quelle: ntv.de

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