Zu Gast bei Flüchtlingen So schön kann es in einem Asylheim sein
18.09.2015, 09:59 Uhr
Beliebt: Die Tischtennisplatte im Flüchtlingswohnheim bei Köln.
In deutschen Asylbewerberheimen finden sich Freunde, gründen sich Fußballmannschaften und werden Kinder zu Erwachsenen. Zu Besuch in einem Flüchtlingsdorf, das für manche zur Heimat geworden ist.
Auf den ersten Blick könnte das Flüchtlingswohnheim in Erftstadt-Blessem bei Köln ein kleiner Ferienpark sein: Weiße Bungalows mit Spitzdächern stehen eng beieinander, ein Zaun umgibt das Gelände. Zwischen den Hütten, wo der Weg ein wenig breiter ist, wuseln Kinder um eine Tischtennisplatte aus Beton. Manche von ihnen schmettern den Ball aber so gezielt an den Rand der Platte, dass man erahnen kann: Sie haben schon mehr Zeit hier verbracht als nur die großen Ferien. Auch die Bungalows wirken nur auf den ersten Blick so, als würden sie an Urlauber vermietet. Die Türen sind morsch, die Fenster schließen nicht mehr richtig, die Farbe blättert ab.
In diesem Übergangsheim leben im Moment etwa 150 Menschen. Viele der Flüchtlinge, die derzeit in Deutschland ankommen, werden irgendwann in einer ähnlichen Unterkunft landen. Wie lebt es sich an so einem Ort?
Die Sozialarbeiterin Sandy Auert arbeitet schon seit Jahren hier und ist noch immer begeistert von dem Konzept: Die Flüchtlinge leben nicht in einem anonymen Wohnkomplex, sondern in einem "Village", wie sie es nennt. Pro Haus gibt es drei Schlafzimmer, die mal einzeln, mal von einer kleinen Familie belegt sind. Wie in einer Wohngemeinschaft teilen sich alle Bewohner eines Hauses Bad und Wohnküche.
Die 18-jährige Maram aus Syrien, die sich von allen hier "Mimi" nennen lässt, kommt zu Besuch. Mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern wurde sie zusammen mit einer iranischen Familie untergebracht. "Wir waren wie eine einzige große Familie", sagt sie. Ein iranisches Mädchen wurde ihre beste Freundin. Schon nach vier Monaten bekam Mimis Familie eine eigene Wohnung zugewiesen, trotzdem kommt sie noch gerne hierher. Zur Begrüßung nimmt sie eine der Ehrenamtlichen in den Arm. Mimi hat gehört, dass die Stadt Erftstadt nun auch eine Notunterkunft in einer Turnhalle eingerichtet hat. "Monika", sagt sie zu der Ehrenamtlichen, "wie kann ich den Flüchtlingen helfen?"
"Zwei verlorene Jahre"
Abendessen gibt es bei einem 21-jährigen Marokkaner, dessen Name hier nicht genannt werden soll. Die Lebensmittel bezahlt er selbst, darauf besteht er. Es gibt Hühnchen mit Kartoffeln und Zwiebeln aus dem Backofen, dazu Brot. Beim Essen laufen Kinder ins Haus, setzen sich auf die Betten und sehen fern. Sandy wundert sich. "Schon okay", sagt der Gastgeber. "Das machen sie öfter."
Der Marokkaner erzählt von seiner langen Reise. Schon mit 14 Jahren kletterte er unter einen Touristenbus, der per Fähre nach Spanien fuhr. Er sah Köpfe und Arme von Menschen, die das gleiche versucht hatten. Er selbst schaffte die Überfahrt unbeschadet, schlug sich über Jahre von einem Ort zum anderen durch – ohne eine Aufenthaltserlaubnis, ohne die Möglichkeit, legal zu arbeiten. Eigentlich sollte seine Reise nach Norwegen führen und von dort weiter nach Kanada. Doch an der deutschen Grenze wurde er gefasst und registriert. Um nicht direkt nach Marokko abgeschoben zu werden, beantragte er vor zwei Jahren Asyl. Seitdem sitzt er fest. Arbeiten ist verboten, weiterziehen auch. Nach Marokko zurück möchte er auf keinen Fall. "Zwei verlorene Jahre", sagt er. Was er tut, wenn ihn die Behörden zur Ausreise auffordern werden, möchte er nicht sagen.
Fußball statt Folter
Draußen spielen die Kinder noch immer Tischtennis. Zwei kosovarische Jungs beherrschen das Rundlauf-Spiel. Viele von ihnen sprechen gutes Deutsch, manche dolmetschen schon für ihre Eltern. Die Erwachsenen dürfen nicht arbeiten, aber ihre Kinder gehen zur Schule. Sie können hier eine fast normale Kindheit mit einigen Vorteilen erleben. Die Eltern haben viel Zeit für sie, jemand zum Spielen findet sich immer. Zwischen den Hütten braucht man auch nicht auf Autos zu achten.
Es wird dunkel. Die Kinder gehen ins Bett, Sandy fährt nach Hause. Die meisten Türen schließen sich. Nur in einem Haus ist noch etwas los. Die Afrikaner treffen sich hier, die meisten von ihnen junge Männer. Ein Nigerianer ist darunter und zeigt seine Narben, die ihm die Terroristen von Boko Haram zugefügt haben, wie er sagt. Zwei Patronen steckten in seinen Beinen. Messerschnitte zeigen, dass er gefoltert wurde. Aber solche Geschichten will hier eigentlich keiner hören und auch kaum jemand erzählen. Chris aus Ghana zum Beispiel beschäftigt viel mehr das Fußballspiel morgen. Er ist der Kapitän der kürzlich gegründeten Flüchtlings-Mannschaft. "Wir müssen unbedingt gewinnen", sagt Chris. Das erste Liga-Spiel ging 5:0 verloren, morgen folgt das zweite. Die anderen sehen das etwas lockerer, trinken Bier und machen noch bis spät abends Scherze. Aber irgendwann sind alle müde genug, um ins Bett zu gehen.
Wer ein Zimmer neu bezieht, findet ein einfaches Bett mit einer muffigen Matratze und einen klapprigen Kleiderschrank vor. Manche Bewohner belassen es dabei. Andere versuchen mit einfachen Mitteln, die Räume wohnlich zu gestalten. Das Flüchtlingsheim wurde vor über 20 Jahren gebaut, als immer mehr Flüchtlinge vom Balkan nach Deutschland kamen. Renoviert wurde es seitdem nicht. Nur mussten an vielen Stellen die maroden Rigipswände mittlerweile mit Holzplatten verstärkt werden.
Komfort dank "Merkelim"
Am nächsten Morgen lädt ein Albaner auf einen Kaffee ein, er spricht nur wenige Worte Deutsch. Auch seine Frau und ein älteres Roma-Ehepaar aus Serbien sitzen am Kaffeetisch. Der Albaner, Hidēr heißt er, spricht in kurzen Sätzen, mit großen Gesten und mit Hilfe einer Übersetzungs-App. Was er mit seiner Zeit hier anfängt? Er zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden. Es scheint ihm peinlich zu sein, dass er außer Kaffeetrinken nichts zu tun hat. Aber bleiben will er dennoch. In Albanien habe seine Familie Streit mit einer anderen Familie gehabt. Seinen Vater hätten sie getötet, er habe Angst um sein eigenes Leben und das seines Sohnes gehabt.
Ein Junge vom Haus gegenüber läuft durch die Küche. Er ist vielleicht anderthalb Jahre alt, hat schwarze Haut und klettert von Schoß zu Schoß. Was hier gesprochen wird, versteht er noch nicht. Ob er es irgendwann spürt, dass er zwischen Menschen aufwächst, die Schreckliches erlebt haben?
Hidēr hat noch eine Botschaft. Er tippt in sein Handy und lässt die App übersetzen. Auf dem Display erscheinen die Worte: "aber hier fanden wir Komfort und Unterstützung … wir bedanken uns bei den Menschen und der deutsche Staat …. vor allem merkelim".
Eine wunderbare Kindheit
Das Ehepaar aus Serbien erzählt, die Frau habe einen Tumor am Rücken. Doch in ihrer Heimat würden die Ärzte keine Roma behandeln. Darum ließen sie ihr altes Leben hinter sich. Alles, was sie mitgenommen haben, sind zwei Pferdegeschirre, die hier nun als Dekoration an der Wand hängen. Hier leben sie nun mit Menschen zusammen, deren Sprache sie nicht verstehen. Wie sie sich dann innerhalb der Hausgemeinschaft verständigen? Der Albaner zeigt auf seine Brust: "Mit dem Herzen."
Bei komplizierteren Angelegenheiten müssen andere helfen. So wie Ferdi, der selbst Rom ist und seit Kurzem als eine Art Sozialarbeiter angestellt ist. Wie erlebt er das Leben im Flüchtlingsdorf? Ferdi antwortet mit einer Geschichte. Ein Junge aus dem Kosovo kam im Alter von sechs Jahren hierher. In der Schule hatte er es nicht leicht, weil er kein Deutsch sprach, aber die Freiwilligen und die Sozialarbeiter im Dorf gaben ihm Rückhalt. Er kämpfte sich zum Hauptschulabschluss, gründete eine Familie und bezog eine eigene Wohnung. Arbeiten durfte er lange nicht. Stattdessen machte er eine Fortbildung nach der anderen. Als er es dann doch arbeiten durfte, verdingte er sich zuerst als Hilfsarbeiter. Kürzlich suchte die Stadt einen Mitarbeiter für das Flüchtlingsheim. Seitdem ist er wieder da. "Ich hatte eine wunderbare Kindheit hier", sagt Ferdi.
Quelle: ntv.de