"Die Welt ein wenig besser machen" Sotloffs Geschichten leben weiter
03.09.2014, 17:53 Uhr
Auf dem Weg nach Aleppo gerät Steven Sotloff in die Gewalt der Terrormiliz IS und wird selbst ein Teil der tragischen Geschichte, über die er eigentlich berichten will. Die IS-Schlächter wollen ihn als Opferlamm darstellen - doch den Gefallen erfüllt der unerschrockene Journalist ihnen nicht.
Wie ist die Sicherheitslage auf der anderen Seite? Wo kann ich schlafen? Welchem Kontaktmann kann ich vertrauen? Brauche ich eine bewaffnete Eskorte? Steven Sotloff stellt diese Fragen jedem Kriegsberichterstatter, der seinen Weg aus der syrischen Bürgerkriegshölle zurück nach Kilis findet. Seit Wochen bereitet sich der amerikanische Journalist in dem türkischen Grenzort auf seine Reise ins umkämpfte Aleppo vor - und er ist so gut gerüstet wie man eben nur sein kann: Der 31-Jährige berichtet seit Jahren von den Krisenherden im Nahen und Mittleren Osten, spricht gut Arabisch und ist mit den Gepflogenheiten vor Ort vertraut. Außerdem kennt Sotloff die Region bereits, Ende 2012 war er zum letzten Mal in Aleppo. Am 4. August 2013 ist es endlich soweit: Zusammen mit seinem Fahrer und drei bewaffneten Begleitern bricht Sotloff ins Ungewisse auf.
Eine Reise, die bereits wenige Kilometer hinter der Grenze jäh endet. Mehrere Pickups blockieren den Weg, Sotloffs Eskorte ergibt sich angesichts der Überzahl schwarz gekleideter und schwer bewaffneter Kämpfer kampflos. Ein Zufall? Wohl kaum: Sotloffs Begleiter schleusten ihn auf einer kaum bekannten Schmugglerroute nach Syrien. Irgendjemand musste den Islamisten die Route des Journalisten gesteckt haben. Wohin der 31-Jährige gebracht wird, wissen nur die Terroristen selbst: "Steven kam in einen anderen Wagen als wir. Ich habe ihn danach nicht mehr gesehen", erinnert sich sein Fahrer, der zusammen mit den anderen Begleitern drei Wochen lang festgehalten wird, später aber wieder freikommt - zusammen mit der Warnung, nie wieder für westliche Journalisten zu arbeiten, sollte ihnen ihr Leben lieb sein.
In ihrer Verzweiflung nennt sie ihn "Kalif"
Sotloffs Familie bittet die Medien, zunächst auf eine Berichterstattung zu verzichten, um ihn nicht zusätzlich zu gefährden. Die Weltöffentlichkeit erfährt erst von Sotloffs Entführung, als seine Peiniger jenes berüchtigte Video veröffentlichen, in dem James Foley grausam enthauptet wird. Am Ende der blutigen Botschaft an US-Präsident Obama präsentiert der "Dschihad-John" genannte Henker mit dem Londoner Akzent sein nächstes Opfer: Steven Sotloff. Die menschenverachtende Brutalität, mit der der Islamische Staat (IS) die Amerikaner davon überzeugen will, ihre Luftschläge gegen IS-Stellungen einzustellen, ist beispiellos. Ein kollektiver Schrei des Entsetzens geht um die Welt, auch wenn ein Großteil der etablierten Presse aus Respekt vor dem Andenken an den Ermordeten - und um die Sache der Islamisten nicht zu unterstützen - darauf verzichtet, das grausame Video zu zeigen.
Shirley Sotloff, die Mutter des entführten Journalisten, wendet sich wenige Tage später in einer herzergreifenden Videobotschaft an den Anführer der Terrormiliz selbst: Abu Bakr al-Bagdadi möge in muslimischer Tradition Milde zeigen. In ihrer Verzweiflung erkennt sie den Islamisten sogar als rechtmäßigen Führer an, nennt ihn "Kalif". Es nützt alles nichts, am 2. September 2014 erfährt die Weltöffentlichkeit von Sotloffs grausigem Schicksal. Wie schon bei Foleys Ermordung wollen die Islamisten die Aufmerksamkeit nutzen, um ihre wirren Botschaften zu verbreiten. In einem Satz zusammengefasst: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und wer gegen uns ist, endet mit abgetrenntem Kopf."
Die Welt ein kleines bisschen besser machen
Das allerdings ist nicht das Ende dieser Geschichte. Nicht nur, weil es den menschenverachtenden IS-Schlächter gar nicht zusteht, das letzte Wort zu behalten - sondern auch und vor allem, weil Steven Sotloff es nicht verdient hat, als Opfer in die Geschichte einzugehen. Seine Peiniger mögen diejenigen mit den Stricken, Messern und Kalaschnikows gewesen sein, Sotloff war der mit dem Köpfchen. Bis zuletzt konnte er vor seinen Kidnappern verborgen halten, dass er neben seiner amerikanischen auch eine israelische Staatsbürgerschaft hatte und noch dazu gläubiger Jude war. Bei jedem Gebet, dass seine Entführer Richtung Mekka hielten, passte Sotloff den Winkel an - und betete Richtung Jerusalem, berichtet ein ehemaliger Mitgefangener, der nach einer Lösegeldzahlung aus den Händen der IS freikam. Am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, hielt sich Sotloff sogar an das traditionelle Fastengebot, indem er eine Krankheit vortäuschte. Die Erkenntnis, den Erzfeind unerkannt in ihrer Mitte gehabt zu haben, muss für die fanatischen IS-Milizen im Nachhinein wie ein Schlag ins Gesicht sein.
Das alles sind natürlich nur Notizen am Rande einer furchtbaren Tragödie: Nie wieder können seine Freunde ein Bier mit Steven Sotloff trinken, nie wieder wird Shirley Sotloff ihren Sohn in die Arme schließen. Und doch bleibt etwas ungemein Wichtiges von diesem unerschrockenen amerikanischen Journalisten: seine Geschichten, mit denen er "die Welt ein wenig besser machen" wollte, wie ein Kollege sagt. Für die er gebrannt hat; für die er dem Tod ins Auge blickte; und für die er in letzter Konsequenz sein Leben gab.
Quelle: ntv.de