
Was treibt einen jungen, bis dato unauffälligen Mann, Dutzende Menschen anderen Glaubens massakrieren zu wollen? Diese Frage soll der Prozess gegen den Halle-Attentäter Stephan B. beantworten. Der Mann sieht das Verfahren als Bühne und offenbart ein erschütterndes Weltbild.
Es ist still im Gerichtssaal. Auch im Medienraum nebenan, in dem ich sitze und gleich der Verhandlung gegen Stephan B. folgen werde. In diesen Raum wird der Ton übertragen. Auch der größte Gerichtssaal Sachsen-Anhalts, in Magdeburg, ist zu klein, um sämtliche Prozessbeteiligten, Zuschauer und Journalisten zu fassen. Als der 28-jährige Angeklagte in den Saal geführt wird, ist er an Händen und Füßen gefesselt. Drei speziell ausgebildete Justizbeamte mit Schutzwesten und Sturmmasken begleiten ihn.
Der Angeklagte wirkt ruhig. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, darüber eine dunkelblaue Jacke. Er setzt sich, sieht sich um. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Denn niemand kann verstehen, wie ein unauffälliger, nicht vorbestrafter 28-Jähriger vom Dorf, der von seinen Anwälten als "zuvorkommend" beschrieben wird, eine solch grausame Tat begehen konnte: zwei Menschen bei dem Versuch zu töten, noch viele mehr zu massakrieren.
Was macht B.?
121 Seiten ist die Anklageschrift lang. Die schwersten Vorwürfe: zweifacher Mord und versuchter Mord zum Nachteil von 68 Menschen. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass B. "aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus" gehandelt hat. Fast 30 Minuten lang werden alle Vorwürfe gegen ihn aufgezählt. Die Erwartungen an diesen Tag sind von allen Seiten hoch. Wird er sich äußern? Nebenklagevertreter Jan Siebenhüner, der einen der Polizisten vertritt, die in die Schießerei mit B. vor dem Dönerimbiss in Halle verwickelt waren, geht von zwei Möglichkeiten aus. Entweder B. lässt sich von der großen Öffentlichkeit, dem vollen Saal und dem großen Interesse einschüchtern und schweigt, oder aber er benutzt den Gerichtssaal als Bühne, für die letzte große Show sozusagen, und erzählt über seine Taten. Ausführlich. So wie in seinen Vernehmungen.
Das Verlesen der Anklage ist beendet. Im Medienraum wird es erneut ganz still. Der Angeklagte will sich äußern. Dann erklingt über die Lautsprecher B.s Stimme. Hoch ist sie, er muss sich räuspern, als habe er schon lange nicht mehr gesprochen, danach ist seine Stimme fest. Über Privates will er ungern sprechen, antwortet einsilbig, als ihn die Richterin Ursula Mertens nach seiner Kindheit fragt. "Es ist unwichtig", sagt Stephan B. Die habe mit der Tat nichts zu tun.
Erinnerungen an einen düsteren Tag
Ich kann den Angeklagten nicht sehen, dafür umso intensiver hören. Seine Stimme passt für mich nicht zu einem erwachsenen Mann. Ihm zuzuhören, fühlt sich wie ein Podcast an. Doch all das hier ist real und bringt auch meine Erinnerungen zurück an den 9. Oktober 2019: Es war 14 Uhr, die Kollegen waren in heller Aufregung. In Halle soll es Schüsse gegeben haben, nun schien sich ein Täter oder die Täter - das war zu diesem Zeitpunkt noch unklar - im kleinen Ort Wiedersdorf aufzuhalten. Einsatzkräfte, hieß es, seien schon vor Ort.
Ich eilte nach Wiedersdorf. Auf dem Weg erfuhren wir von einer Kollegin, dass die Polizei auf einem Feld am Rande des Dorfes absperrt und davor warnt, auszusteigen. "Es könnten Schüsse fallen aus einer Langwaffe, aus unbekannter Richtung. Bleiben Sie im Auto oder gehen Sie hinter Bäume." Um den Ort hatten sich Spezialeinsatzkräfte aufgestellt. Niemand durfte rein oder raus. Ein Polizeihubschrauber kreiste über uns. Ein Anwohner erzählte, dass in einem der Häuser geschossen wurde. Der flüchtige Täter soll sich unter vorgehaltener Waffe ein Auto erpresst haben. Alle fragten sich: Ist er noch hier?
Ein Jahr später, zum Prozessauftakt, macht B.s detaillierte Aussage deutlich: Er war zu dem Zeitpunkt nicht mehr in Wiedersdorf. Er hatte tatsächlich ein Taxi gestohlen, dem Besitzer sogar noch zwei 50-Euro-Scheine hingeworfen. Zuvor forderte er das Auto eines Pärchens. Er schießt auf beide. Jan Z. wird in den Nacken getroffen, dessen Lebensgefährtin, Dagmar M., will er in die Beine schießen, trifft das Gesäß. Beide überleben. B. verlässt das Grundstück, geht zum Nachbarn. Verjagt hatte ihn der eine Satz von Dagmar M., erinnert sich B. "Geh weg", zitiert B. und sagt: "Ich gehe weg." Er spricht im Präsens, wenn er die Tat schildert. Immer wieder bricht er in hysterisches Lachen aus. Im Medienraum macht sich Unbehagen breit. Wie tickt der Mann, der angibt, eine größtmögliche Zahl von Muslimen töten zu wollen, sein Attentat aber vor einer Synagoge beginnt und zwei Deutsche ermordet?
Ein krudes Weltbild und eine schlagfertige Richterin
Genau das will auch Richterin Mertens wissen. Juden seien an allem schuld, sagt der Angeklagte. Sie seien die "Hauptursache vom weißen Genozid" und wollten eine neue Weltordnung errichten. Er sagt noch mehr Abfälliges über Juden, Muslime und Schwarze. Bereits eine halbe Stunde nach Beginn seiner Aussage hatte die Richterin ihn zurechtgewiesen und mit einem Ausschluss aus der Verhandlung gedroht, wenn er mit den unsäglichen Beleidigungen nicht aufhöre.
Mertens versucht zu ergründen, wie Stephan B. zu einem Antisemiten geworden ist. B. hat Abitur. Sein Lieblingsfach war Biologie, seine Schwäche Englisch. Er war bei der Bundeswehr, sechs Monate. Darüber sagt er im Prozess, das sei "keine richtige Armee, Bürger in Uniform". Danach studiert er. Das Fach passt nicht. Er sattelt um, studiert Chemie. Hat eine Wohnung in Magdeburg, Plattenbau, mittlerweile abgerissen. Aus der Lüftung in der Wohnung seien Insekten gekrochen, erzählt B.
Das Jahr 2015 als Knackpunkt
Dann wird er krank, der Darm. Darüber will er gar nicht gerne sprechen. "Sie haben die Akten." B. muss operiert werden. Laut eigener Aussage dauert es ein bis zwei Jahre, bis er sich wieder richtig bewegen kann. Eine Kur lehnt er ab. Die "sei was für alte Leute". Er kehrt nicht mehr zum Chemiestudium zurück, zieht stattdessen zu seiner Mutter. Sie ist Ethiklehrerin an einer Grundschule. Die Eltern sind schon jahrelang getrennt. Das habe mit der Tat aber nichts zu tun, seine Kindheit sei unproblematisch gewesen.
2015, so sagt er im Prozess, sei dann für ihn der Knackpunkt gewesen - die Flüchtlingskrise. Er habe beschlossen, sich nicht mehr in die Gesellschaft einzubringen. In eine Gesellschaft, aus der er durch Muslime verdrängt würde, sagt B. Er beschreibt sich als Einzelgänger. Die Richterin fragt immer wieder nach, ob er Freunde gehabt oder ob er sich mit anderen getroffen habe. B. verneint das, er habe keine Kontakte außerhalb seiner Familie. Zu seiner Schwester habe er ein inniges Verhältnis, aber über seine Gefühle spreche er nicht gern. Die Richterin erklärt, seine Eltern machten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Sie seien auch nicht hier. B. räumt ein: "Ja, es belastet meine Eltern."
Scheitern als Grund für Antisemitismus
Stephan B. hat sich immer als Versager gefühlt. "Einmal Loser, immer Loser." Über den Mord an Jana L., die ganz unbeteiligt vor der Synagoge unterwegs war und sich, die Situation nicht erkennend, über den Lärm ärgerte, sagt er: "Es tut mir leid, dass ich sie erschossen habe. Das war nicht geplant." Es sei eine Kurzschlussreaktion gewesen und wenn er das nicht getan hätte, "hätten ihn alle ausgelacht". Seine Stimme bricht. Allerdings nicht, weil er Mitleid mit Jana L. oder ihren Hinterbliebenen hat, sondern weil er Mitleid mit sich selbst hat. Wieder war er gescheitert. Die Synagogentür hielt stand, das Attentat auf das Gebetshaus schlug fehl.
Das ist auch der Grund, warum B. weiterfährt. Er sucht ein neues Ziel. Den "Kiez-Döner" kennt er nicht. Aber er entdeckt ihn, hält an und wird auch Menschen verletzen. Einen sogar töten. Kevin S. Wieder räumt B. ein, dass es ihm leid tue. Er hätte "Weiße erschossen, das wollte er nicht". Kevin S. hielt er in dem Moment für einen Moslem. Doch er hat mehrmals versucht, auf den 20-Jährigen zu schießen. Mehrmals hatte seine Waffe Ladehemmungen, schließlich stirbt der Malerazubi Kevin S. durch B.s Hand an der Waffe.
Wenn die Antworten unbefriedigend sind
Im Medienraum macht sich Erschöpfung breit - über B.s Worte, seine rechtsextremistische und antisemitistische Weltanschauung, über seine Art, über die Tat zu sprechen. In diesen Momenten ist er aufgeweckt, fast euphorisch. Der Richterin gegenüber beschwert er sich sogar, dass im Gefängnis "alle" auf seinem Gang Muslime seien. Am zweiten Verhandlungstag sollen die Tatvideos, die Stephan B. aufgenommen hat, gezeigt werden. Der Bühnenvorhang für den 28-Jährigen fällt nicht so bald, bis Oktober soll verhandelt werden.
Was macht es mit den Nebenklägern im Saal, den Überlebenden und Hinterbliebenen, dem Täter gegenüberzusitzen und all das zu hören? In der Prozesspause treffe ich Christina Feist. Sie ist gebürtige Wienerin und war am 9. Oktober in der Synagoge. Sie hat B. damals nicht gesehen, die Schüsse und Explosionen aber gehört. Sie sagt, es gebe kein bestimmtes Gefühl, wenn sie B. sieht oder seine Aussage hört. Es seien so viele. Derzeit macht sie ihren Doktor in Philosophie und Geschichte an der Universität Potsdam und Paris, dort lebt sie auch. Sie will nie mehr nach Deutschland ziehen.
Quelle: ntv.de