Politik

Europas Weg in den Frieden Täter, Trümmer und Trauma

Berlin im Mai 1945, der Krieg ist vorbei: Der russische Dichter Jewgeni Dolmatowski trägt eine Hitler-Büste unter dem Arm.

Berlin im Mai 1945, der Krieg ist vorbei: Der russische Dichter Jewgeni Dolmatowski trägt eine Hitler-Büste unter dem Arm.

(Foto: Sammlung Ernst Volland und Heinz Krimmer, Stiftung Deutsches Historisches Museum)

Eine NS-bereinigte Personalakte, das Logbuch eines ganz besonderen Fluges und das "Lied der Deportierten": Mit 500 Exponaten beleuchtet das Deutsche Historische Museum in Berlin die Nachkriegszeit. Und lässt Zeitzeugen sprechen.

Als die deutsche Wehrmacht am 8. Mai 1945 kapituliert, fliegt der 19 Jahre alte Jude Ernst Kohlmann an Bord eines alliierten Flugzeuges eine Schleife über seinem Elternhaus in Köln. Dass seine Mutter und sein Vater 1941 in Riga ermordet worden sind, weiß er noch nicht. Er selbst hat dank eines "Kindertransportes" überlebt und war in Großbritannien den Luftstreitkräften beigetreten. Ebenfalls im Mai kehrt die 14-jährige Larissa Popowitschenko nach Leningrad zurück. Aus ihrer Schulkasse wird sie nur acht Mädchen und Jungen wiedersehen. 32 Schulkameraden sowie die Lehrerin sind in der belagerten Stadt ums Leben gekommen.

Das Deutsche Historische Museum erzählt die Geschichte von 36 Zeitzeugen.

Das Deutsche Historische Museum erzählt die Geschichte von 36 Zeitzeugen.

(Foto: dpa)

Ungefähr zur selben Zeit befindet sich der Berliner Karl Schulz auf der Flucht vor der Roten Armee Richtung Schleswig-Holstein. Die SA-Einheit, der der Kriminalpolizist angehörte, tötete im Sommer 1941 in der Sowjetunion mindestens 150.000 Zivilisten. Nach dem Krieg gelingt es ihm, wie vielen anderen auch, seine Beteiligung an NS-Verbrechen zu vertuschen und in der Bundesrepublik Karriere zu machen. Bis zu seiner Pensionierung 1968 leitet er das Landeskriminalamt Bremen.

Es sind Einzelschicksale, mit denen das Deutsche Historische Museum in Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Gesicht gibt. Die 36 Biografien von Opfern und Tätern, Frauen und Männern, Unbekannten und Prominenten sollen den Besuchern einen Zugang zu der großen Weltkriegsausstellung verschaffen. "1945 - Niederlage. Befreiung. Neuanfang" erzählt davon, wie die Menschen nach dem nationalsozialistischen Terror weiterlebten und vor welchen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen sie angesichts von Verlust, Leid und Zerstörung standen.

Millionen Opfer, Millionen Traumatisierte

1945 ist eine Zeit großer Umbrüche. Nach fast sechs Kriegsjahren und 60 Millionen Opfern weltweit ist es unmöglich, nahtlos zum Alltag zurückzukehren. Auf den Straßen herrscht Chaos: 400.000 KZ-Häftlinge und 7 Millionen Zwangsarbeiter werden befreit und irren durch Europa, ebenso wie die 40 Millionen Menschen, die heimatlos geworden sind. Viele von ihnen suchen ihre Familien, aber am Ende steht fest: 20 Millionen Menschen hat der Krieg zu Halb- oder Vollwaisen gemacht. Viele Städte Europas liegen in Trümmern, die Menschen leiden Not und Hunger.

Die Schau bietet eine Momentaufnahme der Geschehnisse von der Kapitulation bis zum politischen Wiederaufbau. Dafür werden insgesamt 12 Länder beleuchtet: Neben Deutschland sind das die direkten Nachbarstaaten sowie die Siegermächte Großbritannien und die Sowjetunion. Zusätzlich schafft Norwegen den Sprung in die Ausstellung. Im Gegenzug wird Südeuropa völlig ausgeklammert. Mit Italien findet somit der einzige Bündnispartner Nazi-Deutschlands auf europäischem Boden keine Erwähnung. Und dass Griechenland durch das Raster fällt, ist angesichts der aktuellen Diskussion um Reparationszahlungen eine allzu offensichtliche Lücke.

Mit insgesamt 500 eng gestellten und gehängten Exponaten liefern die Kuratoren eine Flut an Informationen. Da kann nur einiges im Gedächtnis haften bleiben: etwa Tintenfässchen und Federhalter, die einem Jungen gehörten, der als einer der wenigen das Massaker von Oradour-sur-Glane überlebte. Das Notenblatt mit dem "Lied der Deportierten", im Herbst 1945 geschrieben, das an das Leid und die Einsamkeit der KZ-Häftlinge erinnert und die Sehnsucht nach ihren Angehörigen. Oder der Wollmantel, auf dem eine Frau während ihrer Zwangsumsiedelung ein Kind im Zug gebar.

Was passiert mit den Tätern?

Mit dem Ende des Krieges stellte sich überall in Europa die Frage: Wie soll mit NS-Tätern und Mitläufern umgegangen werden? Die Schau zeigt exemplarisch einen Schrank der dänischen Zentralkartei, in dem Widerstandskämpfer die Namen von mutmaßlichen Kollaborateuren sammelten. Außerdem sind Akten der Nürnberger Prozesse ausgestellt sowie ein "Persilschein", mit dem der SA-Mann Lorenz W. vom "Belasteten" zum "Mitläufer" zurückgestuft wurde.

Dass in vielen Ländern eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kaum stattfand, zeigt ein Wahlplakat von 1949, mit dem die Österreichische Volkspartei offensiv um die Stimmen ehemaliger NS-Anhänger warb. Darauf ist ein auf dem Boden kauernder Nazi abgebildet, dem von einem ÖVP-Mann eine Brücke mit der Aufschrift "Gleichberechtigung" über den Abgrund gereicht wird.

Die Ausstellung hat sich viel vorgenommen und reißt doch die großen Themen nur an, die noch heute ihre Spuren in Politik und Gesellschaft hinterlassen haben - und in den Biografien der Überlebenden. Bevor die Jahre des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit "mehr und mehr vom kommunikativen Gedächtnis in das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft übergehen", wollen die Kuratoren zum 70. Jahrestag des Kriegsendes noch einmal Zeitzeugen zu Wort kommen lassen. Beispielhaft dafür stehen Logbuch und Routenzeichnung des Fluges am 8. Mai von Ernst Kohlmann, das Klassenfoto von Larisa Popovicenko und die NS-bereinigte Personalakte von Karl Schulz.

Die Ausstellung ist bis zum 25. Oktober im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen.

Quelle: ntv.de

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