136 Terroristen und Kriminelle? Türkischen Abgeordneten drohen Verfahren
17.05.2016, 12:49 Uhr
Das Parlament in Ankara.
(Foto: imago/Xinhua)
Das türkische Parlament als Hort von Verbrechern – so sieht das offenbar der Parlamentsausschuss für Verfassungsfragen und will die Immunität vieler Abgeordneter aufheben. Das wahre Ziel der Maßnahme dürfte ein anderes sein.
Es ist ein Plan, der schon Anfang des Monats für Prügel und Verletzte gesorgt hat. Wie von Sinnen kletterten Abgeordnete auf Tische, um ihre Kollegen besser treten zu können. Damals beriet der türkische Parlamentsausschuss für Verfassungsfragen über eine geplante Verfassungsänderung zur Aufhebung der parlamentarischen Immunität. Am Dienstag und Freitag dieser Woche stimmt das türkische Parlament darüber ab. Am Ende könnte die Immunität von einem Viertel der Parlamentarier aufgehoben werden.
Insgesamt gibt es derzeit mehr als 600 anhängige Verfahren gegen 136 Abgeordneten. Zu ihnen gehören Vertreter aller vier Parteien, die im Parlament sitzen, selbst einige Abgeordnete der seit 2002 regierenden AKP. Die Anschuldigungen reichen von Terrorunterstützung bis hin zu Amtsmissbrauch. Nach der Aufhebung der Immunität müssen alle mit der Eröffnung eines Verfahrens rechnen.
Auch wenn Abgeordnete aller Fraktionen von der Aufhebung der Immunität betroffen wären, würde diese vor allem eine Partei maßgeblich schwächen: die pro-kurdische Oppositionspartei HDP. 50 ihrer 59 Abgeordneten soll die Immunität entzogen werden. Die HDP ist dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan schon lange ein Dorn im Auge. Er wirft ihr vor, der "verlängerte Arm" der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein, die sich mit türkischen Sicherheitskräften einen blutigen Guerillakrieg liefert. Auch HDP-Chef Selahattin Demirtas, Erdogans erbitterter Gegner, wird die "Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Vereinigung" vorgeworfen.
HDP: "Neuer totalitärer Angriff"
Die Kritik der HDP an dem Vorhaben ist dementsprechend harsch: "Die bereits schwache parlamentarische Demokratie der Türkei ist einem neuen totalitären Angriff ausgesetzt", hieß es jüngst in einem Brief der HDP-Führung an den Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz. Die Initiative sei verfassungswidrig und würde Erdogan einen "monopolartigen Zugriff" auf die Legislative erlauben.
Auch Juristen warnen vor einem solchen Schritt: "Die Aufhebung der Immunität würde die Türkei ins Chaos stürzen", zitiert die Deutsche Welle den Istanbuler Jura-Professor Ibrahim Kaboglu. Er befürchtet, dass die Festnahme von HDP-Abgeordneten zu Straßenschlachten und einer weitere Verschärfung der gesellschaftlichen Konflikte führen könnte.
Ähnlich besorgt klingt der Jura-Professor Ergun Özbudun. Er rechnet ebenfalls mit einer weiteren Radikalisierung der kurdischen Bewegung. Dies war 1994 schon einmal der Fall gewesen, als pro-kurdische Abgeordnete ihren parlamentarischen Schutz verloren und mehrere von ihnen zu Haftstrafen verurteilt wurden - unter anderem die spätere Sacharow-Preisträgerin Leyla Zana.
Glaubt man HDP-Politikern und dem Journalisten Sedat Bozkurt, könnte das gesellschaftliche Chaos vor allem Erdogan und seiner AKP nutzen. "Die AKP wird versuchen, die Frage der Immunität in einer Volksabstimmung klären zu lassen", zitiert die Deutsche Welle Bozkurt. Bis es so weit sei, werde es immer mehr Ausschreitungen geben. Die AKP könne daraufhin der Kurdenpartei HDP die Schuld geben und viele Türken würden aus Sorge den AKP-Plänen zustimmen. Im Anschluss, so Bozkurts Prognose, werde es zu Neuwahlen kommen, bei denen die kleineren Oppositionsparteien, die Nationalistische Bewegung MHP und die HDP, unter der Zehn-Prozent-Hürde bleiben würden. Die AKP hätte dann ihr Ziel erreicht: Sie könnte die Verfassung ändern, alle Hindernisse für das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem wären aus dem Weg geräumt.
Doch noch braucht Erdogan 367 Stimmen, um die Immunität der Abgeordneten aufzuheben, die AKP selbst verfügt nur über 316 Abgeordnete. Auch wenn einige Abgeordnete der MHP und der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP mit der AKP stimmen sollten, ist der Ausgang der Wahl unklar. Gerüchten zufolge sollen selbst Vertreter der AKP gegen die Initiative sein. Sollte es allerdings tatsächlich zur Aufhebung der Immunität kommt, bleibt der HDP noch eine Hoffnung: In diesem Fall will sie vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.
Quelle: ntv.de