Politik

Israel kauft Geiseln frei "Vielleicht handeln wir gegen jede Vernunft"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Eitan Cohen, 12 Jahre alt, Gefangener der Hamas

Eitan Cohen, 12 Jahre alt, Gefangener der Hamas

(Foto: privat)

Ab morgen sollen 30 Kinder aus der Hand der Hamas-Terroristen zu ihren Familien zurückkehren. Wird der zwölfjährige Eitan dabei sein? Und wie hoch ist der Preis nationaler Sicherheit, den Israel für die Geiseln zahlt? 

Seit 47 Tagen, am Sabbat um 5:30 Uhr, kämpft Batsheva Yahalomi Cohen um das Leben von Eitan, zwölf Jahre alt. Sie hat ihre drei Kinder stundenlang zu beruhigen versucht, während draußen Schüsse knallten, "Allahu Akbar"-Rufe und Rauch vom brennenden Kibbuz durch die Ritzen drangen. Als die Terroristen schließlich die Tür aufbrachen, mit einer Waffe auf sie zielend riefen, "Come, come", ist sie gegangen. Mit Eitan und seiner Schwester, auf dem Arm das Baby. Am blutenden Vater vorbei, der sagte, er liebe sie, und sie sollten den Terroristen gehorchen. Batsheva wusste, was die vier erwarten würde. Geiseln sind Gold für die Hamas, schon immer gewesen. "Take me, not the kids", flehte sie dennoch, chancenlos.

Dass die Mutter seitdem immer wieder in TV-Studios sitzt, auf Podien in Israel, im Ausland, auch in Berlin ihre Geschichte erzählt - in Freiheit und am Leben -, das verdankt sie einem Motorradsturz. Dem Terroristen rutschte die Maschine weg, als er Batsheva und ihre zwei Mädchen Richtung Gaza fuhr. Das andere Motorrad, mit Eitan hinten drauf, sah die Mutter über die Grenze verschwinden. Auch Ohad, ihr Ehemann, gilt als verschleppt. Kein Lebenszeichen von beiden seit 47 Tagen. Und nun der Deal. Acht Mütter, zwölf Alte, 30 Kinder.

Noch immer werden Leichen obduziert

Ob dies alle entführten Kinder sind, ob Israel mit diesem Deal die Kinder wenigstens zurückbekommt aus den Händen der Peiniger, lässt sich nicht sicher sagen. Noch immer laufen Obduktionen sterblicher Überreste. Manche, die zunächst als Geisel galten, werden als tot identifiziert. Andere, die man zunächst für tot hielt, könnten doch verschleppt worden sein.

Nicht nur Batsheva kämpft um Eitans Leben und all die anderen. Seit dem 7. Oktober wirkt es so, als rufe das ganze Land, "bring them home" - bringt sie nach Hause. Israel wurde gepflastert mit Fotos der Geiseln an den Fassaden, Zehntausende marschierten über Tage von Tel Aviv nach Jerusalem. Angehörige der Entführten trafen sich selbst und an der Regierung vorbei mit katarischen Unterhändlern. So groß ist das Misstrauen, so wenig glauben die Israelis noch an die Versprechen ihres Regierungschefs.

Es ist eine Koalition, in der ein wegen Korruptionsverdacht angezählter Premier mit Rechtsradikalen paktiert. Gegenwärtig hat Benjamin Netanjahu noch das Vertrauen von vier Prozent der Bevölkerung. So hat es die neueste Umfrage ergeben. 76 Prozent der Befragten wünschten sich seinen sofortigen Rücktritt. Die Kluft zwischen "Bibis" Rechtsregierung und den Israelis ist so groß, da kann selbst ein Minister, der im Radio über die Möglichkeit eines Atombombenabwurfs auf Gaza sinniert, kaum noch Schaden hinzufügen.

Um auf die Ultrarechten nicht angewiesen zu sein, hat der Premier eine Notstandsregierung mit der Opposition gebildet. Das sicherte ihm eine deutliche Mehrheit für den Geisel-Deal, gegen den Willen des rechten Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir.

"Anfangs wollte sich Netanjahu nicht einmal mit den Familien der Geiseln treffen", sagt die israelische Bildungsexperten und Buchautorin Anita Haviv ntv.de. Doch sogar die Sicherheitskräfte hatten ein Abkommen befürwortet. "Netanjahu wäre niemals damit durchgekommen, diesen Deal abzulehnen", so Haviv, die auch für die Bundeszentrale für politische Bildung in Israel tätig ist. Sie erlebt den Premier als jemanden, auf den man leicht Druck ausüben kann. "In diesem Fall wurde wahnsinnig viel Druck ausgeübt."

Vielleicht ein erstes, vorsichtiges Aufatmen

Nun sollen also morgen die ersten mindestens zehn Geiseln freigelassen werden, im Gegenzug für eine Feuerpause und die Freilassung inhaftierter Palästinenser. Vielleicht könnte die Rückkehr dieser Zehn, die Bilder von Menschen, die sich nach Wochen unerträglicher Angst in die Arme schließen werden, dem geschundenen Land ein erstes, vorsichtiges Aufatmen ermöglichen. Für mehr ist die Sorge um die restlichen Entführten wohl zu groß und der Preis zu hoch, den Israel zahlt. "Die Solidarität mit den Geisel-Familien ist uneingeschränkt, ein 'Nein' zu diesem Deal wäre keine Option gewesen. Aber das Land macht sich damit auch enorm verwundbar", sagt Haviv. "Vielleicht handeln wir gegen jede Vernunft."

Auf der politischen Ebene gibt es valide Argumente gegen eine Einigung mit den Terroristen, allein die Ermunterung eines erfolgreichen Abkommens für mögliche Nachahmer. Die beiden Bestandteile der israelischen Gegenleistung haben direkte Auswirkung auf die Sicherheit des Landes. Man entlässt fast 300 zumeist jugendliche inhaftierte Palästinenser.

"Da sie noch jung sind, werden sie in der Hamas oder dem Islamischen Dschihad noch keine unmittelbare Führungsfunktion übernehmen", lautet die Einschätzung des Israel-Experten und Buchautors Richard C. Schneider. "Die Radikalisierung hat aber schon vorher begonnen, sonst wären sie gar nicht inhaftiert. Und über muslimische Geistliche im Gefängnis wird sie weiter vorangeschritten sein, solche Entwicklungen kennt man auch aus Haftanstalten in Europa und den USA."

Die jüngere Geschichte gibt Schneider recht: 2011 entließ Israel im Handel für das Leben des entführten Soldaten Gilad Schalit 1027 palästinensische Häftlinge. Einer von ihnen war Jahia Sinwar, freigekommen nach 23 Jahren in israelischer Haft. Heute ist Sinwar Chef der Hamas im Gazastreifen. Für das Massaker vom 7. Oktober gilt er als maßgeblich verantwortlich.

Die jungen Häftlinge, die nun freikommen, hätten "noch kein Blut an den Händen", so heißt es von offizieller Seite. Doch dass Israel in den kommenden Tagen die nächste Generation Islamisten, womöglich Terroristen freisetzt, ist nach Einschätzung Schneiders sehr wahrscheinlich.

Umso wichtiger ist es für Israel, sich beim Kriegsziel nicht beirren zu lassen, den militärischen Apparat der Hamas vollständig zu zerstören. Die Strukturen, in denen gewaltbereite Palästinenser bislang Ausbildung und Ausstattung bekamen, sollen nicht mehr bestehen. Auf diesem Weg zum Ende der Hamas als Terrormacht bedeutet das nun geschlossene Abkommen einen Rückschlag, das militärische Momentum auf Israels Seite wird verloren gehen. Doch die Streitkräfte sind zuversichtlich, das auffangen zu können.

"Hamas hat Nord-Gaza komplett verloren"

Denn militärisch läuft der israelische Gegenschlag wesentlich besser als zunächst erwartet. Die Armee hatte mit vielen eigenen Verlusten gerechnet, beklagt aber deutlich weniger Gefallene und kommt schneller voran. "Man hat neue Technologien und Strategien entwickelt, die offensichtlich greifen, sodass die Hamas zum einen Nord-Gaza tatsächlich komplett verloren hat und zum anderen auch sehr viele sehr wichtige Figuren innerhalb ihrer Kommandostruktur", bilanziert Schneider im Gespräch mit ntv.de. Für die Hamas sei der Waffenstillstand als Verschnaufpause sehr dringend.

Von dem Geisel-Deal erwartet die Terrorgruppe sich neben der Gelegenheit, sich neu zu organisieren, auch noch konkreten Nutzen für ein weiteres Problem. Denn die Terroristen sind mit ihrer öffentlichen Darstellung des Massakers über das eigene Ziel hinausgeschossen: "Die brutalen Bilder, die die Hamas mit ihren Gopros bewusst produziert hat, um die Israelis und die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen, haben sie auf eine Stufe mit dem Islamischen Staat gestellt." Nach erstem Jubel hätten sich viele Palästinenser angesichts der Brutalität abgewandt. Auch arabische Israelis zeigten sich oftmals mit ihren jüdischen Mitbürgern solidarisch. Der Iran und die Hisbollah unterstützen die Terroristen im Kampf weit weniger als erhofft. "Die Hamas wird vielfach mit dem IS gleichgesetzt. Von diesem Image wollen sie durch die Freilassung von Geiseln wieder etwas wegkommen."

Was gut für die Hamas ist, ist schlecht für Israel. So einfach lässt es sich zusammenfassen. Doch über dieser Rechnung steht das Mitgefühl der Menschen mit denjenigen, die unschuldig Opfer des Terrors werden. Morgen nun könnten einige von ihnen nach Hause zurückkehren, und vielleicht ist Eitan Cohen unter ihnen. Seine Mutter Batsheva weiß es noch nicht. Die Behörden haben die Familien nicht informiert, zu fragil sind Zusagen der Terroristen. Man will keine Hoffnung wecken, die umso schmerzhafter enttäuscht werden könnte.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen