Politik

Noch kein Rückzug der Truppen Warum Cherson für die Russen so gefährlich wird

Der Fluss Dnipro ist an manchen Stellen in der Region einen knappen Kilometer breit. Für die Russen wäre er die beste Verteidigungslinie.

Der Fluss Dnipro ist an manchen Stellen in der Region einen knappen Kilometer breit. Für die Russen wäre er die beste Verteidigungslinie.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Die Stadt wird geräumt, die Truppen bleiben vor Ort - in Cherson laufen die Russen Gefahr, in einen ukrainischen Kessel zu geraten. Ein Rückzug bis zum Fluss würde ihnen den Kampf enorm erleichtern, doch das ist bislang noch keine Option.

Aus der Region Cherson liefern die russischen Truppen nahezu stündlich neue Meldungen: Zunächst, so heißt es, habe die ukrainische Armee Zehntausende Soldaten zusammengezogen, ab dem Mittag meldet die russische Besatzungsverwaltung dann den Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive. Man habe alle Angriffe bislang abgewehrt.

Parallel beginnen die Russen, die Stadt zu räumen. Per SMS soll die Bevölkerung von der Aktion informiert worden sein, die man von russischer Seite als "Evakuierung" bezeichnet. Im Staatsfernsehen ist zu sehen, wie Menschen mit Fähren über den nahegelegenen Fluss Dnipro ans andere Ufer gefahren werden. Am frühen Nachmittag verkündet Russlands Diktator Wladimir Putin dann, dass ab Donnerstag in den vier annektierten ukrainischen Gebieten, darunter Cherson, das Kriegsrecht gilt.

"So beginnt der Kreml, in den besetzten Regionen seine Macht zu zementieren, russisches Recht wird dorthin übertragen", sagt dazu der österreichische Militärexperte Markus Reisner ntv.de. Kriegsrecht verleihe den Sicherheitsorganen Sondervollmachten, auch gegenüber der Industrie und der Bevölkerung.

Trotz vieler Vorteile, die das ab Donnerstag herrschende Kriegsrecht für die russischen Truppen im Raum Cherson haben wird, ist ihre militärische Lage im Süden der Ukraine weiterhin prekär. Die angestrebte Räumung der Stadt spricht dafür, dass im Gebiet schlicht nicht genug Truppen zur Verfügung stehen, um einen ukrainischen Angriff schon vor dem Stadtgebiet abzuwehren. "Will man verhindern, dass die Stadt womöglich im Kampf zerstört wird, müsste man die Frontlinie vor der Stadt halten, westlich des Flusses Dnipro", sagt der ehemalige Oberst Wolfgang Richter, der für die Stiftung Wissenschaft und Politik forscht.

Sind die russischen Streitkräfte dazu nicht in der Lage, so müssten sie sich fragen, ob die besetzte Stadt überhaupt zu halten ist. Denn falls sich die Russen entscheiden, Cherson zu verteidigen, laufen sie Gefahr, dort durch ukrainische Kräfte eingekesselt zu werden. Eine solche Entwicklung "wäre sehr verlustreich, und zwar für beide Seiten, auch für die Ukrainer".

Der Fluss ist kaum noch passierbar

Eine weniger riskante Option für das russische Militär wäre eine Begradigung der Front, indem sich die Truppen bis zum Fluss Dnipro und dort auf das gegenüberliegende Ufer zurückziehen. "Der Fluss wäre die beste Verteidigungslinie", so Richter. Denn die Ukrainer haben die Brücken über den Dnipro mit ihren Angriffen weitgehend unpassierbar gemacht. Nun gibt es nur noch sehr wenige Stellen, an denen man über Pontonbrücken ans andere Ufer kommt. "Auf diese könnte Russland das Feuer konzentrieren", sagt der Oberst a.D. "Eine solche Frontbegradigung ist eine gute Option, wenn man wenig Kräfte hat." Politisch wäre es für den Kreml hingegen eine Katastrophe, wenn Cherson militärisch nicht zu halten wäre. "Kurze Zeit nach der Annektierung des Gebiets steht Russland dann vor dem Verlust der Hauptstadt", so Richter.

Und auch perspektivisch wäre Chersons Verlust für die Russen fatal, sagt Reisner. Denn die russische Stellung dort könnte ein Brückenkopf sein, von dem aus sie im Frühjahr neue Angriffe starten und versuchen könnten, zwischen dem Osten und dem Süden eine Landbrücke bis hinunter zur Krim zu schaffen. "Die Russen könnten versuchen, die Ukraine zu einem Binnenland zu machen", erklärt der Experte. Für diesen Plan müssten sie Cherson halten.

Doch noch werden keine Rückzugsbewegungen, von den Russen meist als "Umgruppierung" kaschiert, gemeldet. Und das Kriegsrecht wird ab Donnerstag seine Wirkkraft entfalten. Mithilfe der Militärzensur etwa könnten die Besatzer vor Ort in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens eingreifen. Sie dürfen Häuser und Wohnungen oder Fahrzeuge durchsuchen, Dokumente überprüfen und Ausgangssperren verhängen, Besitztümer beschlagnahmen. Die Listen ließe sich fortsetzen.

Einrichtungen, die für das Überleben der lokalen Bevölkerung notwendig sind, könnten ins Hinterland verlagert werden, "theoretisch bis nach Russland", sagt Markus Reisner. Aus seiner Sicht könnten solche Schritte auch der Versuch sein, die Ukraine ihrer Industrie zu berauben, um sie selbst zu nutzen. "Im Wesentlichen herrscht Ausnahmezustand", fasst Reisner das Kriegsrecht zusammen.

Eine weitere Komponente kann für die Widerstandskraft und den Zusammenhalt der ukrainischen Bevölkerung zur besonderen Gefahr werden: Die Verhängung des Kriegsrechts "kann auch bedeuten, dass man in den annektierten Gebieten mobilisiert", sagt Ex-Militär Richter. "Die russischen Streitkräfte können also Ukrainer, die der Kreml per Annexion zu Russen erklärt hat, zum Wehrdienst einberufen."

Ebenfalls möglich ist es, sie zu anderen Diensten zu verpflichten, etwa zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, des Verkehrs, der Energieversorgung - immer im Sinne der Besatzungsmacht. Aus Sicht des ehemaligen Oberst wäre die Verpflichtung zu militärischen oder zivilen Diensten für die Bewohner der Region besonders heikel, denn Teile der Bevölkerung in den Gebieten im Süden sind tatsächlich Russland-affin, waren es schon immer. Und sie waren auch in der Vergangenheit schon bereit, mit den Besatzern zu kooperieren. Die Konflikte, die daraus innerhalb der Bevölkerung entstehen, würden sich unter Kriegsrecht vermutlich verschärfen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen