
Frank S. vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf.
(Foto: dpa)
Der Mord an der britischen Abgeordneten Jo Cox ähnelt der Attacke auf die Kölner Politikerin Henriette Reker. Was brachte die Täter dazu, ihre Opfer so brutal anzugreifen?
Dass Politiker Morddrohungen erhalten, scheint normal geworden zu sein. Insbesondere jene, die sich für die Vielfalt der Gesellschaft und gegen Fremdenfeindlichkeit engagieren, berichten immer wieder von Mails und Online-Kommentaren, in denen ihnen der Tod gewünscht wird. Die Absender ergehen sich geradezu in Fantasien, wie sie ihr Opfer umbringen könnten.
Innerhalb von neun Monaten haben zwei Täter Ernst gemacht. Frank S. stach im Oktober der damaligen Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker ein Messer in den Hals. Reker überlebte mit viel Glück. Am vergangenen Donnerstag schoss Thomas Mair der britischen Unterhausabgeordneten Jo Cox in den Kopf. Cox starb im Krankenhaus.
Die Taten sind einander ähnlich:
- Die Opfer sind Frauen, aufstrebende Politikerinnen, die in der ethnischen Vielfalt ihrer Städte eine Bereicherung sahen und mit dieser Ansicht Wahlkampf machten.
- Die Täter sind Männer in einem ähnlichen Alter, Mair ist 52, S. ist 45 Jahre alt. Beide waren arbeitslos und lebten zurückgezogen. Bei beiden wurden rechtsradikale Medien gefunden.
- Die Taten ereigneten sich in politisch aufgeladenen Situationen. Im Oktober 2015 formierte sich in Deutschland die Gegenbewegung zur Willkommenskultur, die sich im Sommer breitgemacht hatte, als Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland durchgelassen wurden. Die Kritik an der Flüchtlingspolitik vermischte sich mit Fremdenfeindlichkeit. Der Juni 2016 in Großbritannien ist von der Brexit-Debatte geprägt, bei der es um eine grundsätzliche Weichenstellung für das Land geht. Auch hier vermischt sich eine sachliche Kritik – nämlich die an der EU – mit Ressentiments.
- Beide Täter versuchten, ihre Tat zum Verbreiten von Propaganda zu nutzen. Sie agierten in aller Öffentlichkeit. "Tod den Verrätern, Freiheit für Großbritannien", sagte Thomas Mair vor dem Haftrichter. Frank S. versuchte schon auf der Fahrt zur Polizei, die Beamten davon zu überzeugen, dass seine Tat politisch notwendig gewesen sei.
Sind die Taten der extreme Ausdruck einer entfesselten Debatte? Haben Pegida und die AfD, die "Leave"-Kampagne und Ukip ihren Anteil daran? Die Zusammenhänge scheinen vielen offensichtlich zu sein. Wie Thomas Mair zu seiner Entscheidung kam, lässt sich noch nicht sagen. Bekannt ist, dass er psychisch krank war. Im Fall von Frank S. kann man sagen: Der Zusammenhang zwischen Tat und öffentlicher Debatte ist zumindest komplexer, als er scheint.

In Birstall in Yorkshire liegen Bilder und Blumen an dem Ort, wo Jo Cox ermordet wurde.
(Foto: imago/ZUMA Press)
Der forensische Psychiater Norbert Leygraf hat Frank S. eingehend untersucht. Sein Gutachten wird eine wichtige Grundlage für das Urteil gegen S. sein, das voraussichtlich am 1. Juli 2016 gefällt wird.
Vor Gericht berichtete Leygraf, dass S. schon in seiner Kindheit ein mangelndes Selbstwertgefühl zeigte, hervorgerufen durch die Eltern, von denen er etwa im Alter von vier Jahren verwahrlost in einer Wohnung zurückgelassen wurde. Der Alltag in seiner Pflegefamilie war von Gewalt geprägt. "Er hat die Welt als bedrohlich und feindselig erlebt", so Leygraf. Darum habe er sich zu einem Einzelkämpfer entwickelt. Besonders schwer zu verarbeiten ist für ihn, wenn etwas mit ihm passiert, das er nicht beeinflussen kann. Lange Zeit steht er wegen Körperverletzungen unter Bewährung. Als er wegen einer weiteren Straftat absehen kann, dass er bald ins Gefängnis muss, kündigt er seine Wohnung und seine Arbeitsstelle und bittet darum, die Bewährung zu widerrufen. Er geht freiwillig früher ins Gefängnis, um wieder Herr über sich selbst zu werden. Im Gefängnis schafft er es dann wiederum nicht, sich den dortigen Regeln zu unterwerfen und muss darum die komplette Strafe absitzen.
Rechtsradikale Ansichten hatte Frank S. schon vor Jahren
Frank S. sieht sich selbst als weltoffen und tolerant. Er habe sich oft mit linken Positionen auseinandergesetzt, sagt er immer wieder. Doch in Wirklichkeit teilt er die Welt in schwarz und weiß: Auf der einen Seite stehen die Grünen, die SPD und die Antifa, auf der anderen Seite mutige Rechte, die gegen den Strom schwimmen. Recht hat immer nur er selbst. Dass er sich geirrt haben könnte, kommt nicht infrage. So zweifelt er Zeugenaussagen und Gutachten an, weil er sich an Details seiner eigenen Tat anders erinnert. Leygraf diagnostiziert eine Persönlichkeitsstörung, die durch paranoide und narzisstische Persönlichkeitsanteile gekennzeichnet sei. Schuldfähig ist der Angeklagte seiner Meinung nach dennoch.
In den Jahren seiner letzten Arbeitslosigkeit sei der Angeklagte in ein perspektivloses Leben "abgesackt", so der Gutachter. Er habe es aber nicht vermocht, diese Situation seinem eigenen Verhalten zuzuschreiben – das hätte nicht zu seinem Weltbild gepasst. Zunächst sah er einen Ausweg in einem öffentlichen Selbstmord. Den Plan setzte er aber nicht um.
Interessant ist, dass in der ganzen Verhandlung über bislang elf Tage bislang kaum ein politischer Bezugspunkt des Täters zur Sprache kam. Er sagt, dass er sich im Internet bei den üblichen Online-Medien informiert habe und darüber hinaus auf "Seiten, die nicht regierungsgesteuert sind". Mutmaßlich meint er damit rechte Foren, doch genauer wurde das im Prozess nicht thematisiert. Die Vermutung, er wäre zu Pegida-Demonstrationen nach Dresden gefahren, wenn er mehr Geld gehabt hätte, wies S. im Prozess deutlich zurück.
Während des Oberbürgermeister-Wahlkampfes besorgte sich S. Aufkleber über das Internet, auf denen "Antifa-Banden zerschlagen!" steht, und klebte sie auf Rekers Plakate. Dass unterhalb dieses Spruches auch der Name der rechtsradikalen Partei "Der III. Weg" steht, kümmerte ihn nicht. "Das wird irgendeine rechte Gruppe sein", sagte er auf Nachfrage der Vorsitzenden Richterin.
Es ist gut möglich, dass Frank S. über das Internet von der aggressiven Anti-Flüchtlings-Stimmung beeinflusst wurde. Rechtsradikale Ansichten hatte er allerdings schon Jahre zuvor. Das Attentat beging er in erster Linie nicht, weil es ihm jemand eingeflüstert hätte oder weil er das Programm einer Partei oder Bewegung überinterpretierte. Das Attentat war der Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er die Dinge im Griff hat und sein Leben einen Sinn ergibt.
Quelle: ntv.de