Interview mit Tom Segev "Israel muss vor sich selbst gerettet werden"
26.03.2023, 11:07 Uhr
Proteste am Freitag in London - Anlass war der Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu in Großbritannien.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Die Demokratie ist ein System, das auf zwei Arten zerstört werden kann, sagt der israelische Historiker Tom Segev im Interview mit ntv.de, "entweder von unten, also beispielsweise durch einen Putsch, oder von oben, wie das jetzt in Israel passiert". Den Streit um die Justizreform in Israel sieht er als Kampf der Grundwerte.
ntv.de: Durch die von der neuen Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu vorgeschlagene Justizreform erlebt Israel seit Wochen noch nie da gewesene Massendemonstrationen. Ist das für Israel eine Zeitenwende?
Tom Segev: Die israelische Demokratie war noch nie in einer so großen Gefahr. Es gab zwar immer rassistische Elemente in der israelischen Politik, aber noch nie eine so rechtsradikale Gruppierung im Parlament, von der die Regierung so abhängig ist. Es ist eine gefährliche Zeit.

Tom Segev kam 1945 in Jerusalem als Kind von Eltern zur Welt, die 1933 aus Deutschland geflohen waren. Er gehört zu den renommiertesten Historikern und Journalisten Israels.
(Foto: privat)
Zugleich gibt es massive Proteste.
So stark und umfangreich waren sie noch nie. Es gab in Israel schon oft Demonstrationen, die für dieses oder jenes auf die Straße gingen - wie in den Fünfzigerjahren gegen die Beziehungen zu Deutschland oder auch nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Aber niemals waren so viele Menschen verängstigt wie jetzt und dies liegt teilweise daran, dass Israel auch einen Kampf zwischen der gesellschaftlichen und politischen Elite erlebt.
Wie meinen Sie das?
Die Proteste werden zum Teil von Menschen angeführt, die mit dem Trauma der Diskriminierung aufwuchsen, hauptsächlich von Juden, die aus arabischen Ländern kamen. Dieses Gefühl, dass sie keinen Anteil haben an dem, was in Israel passiert, wurde über Generationen weitergegeben und jetzt sind sie so weit, dass sie versuchen, die herrschenden Eliten auszuwechseln. Es ist also auch ein Kampf der Grundwerte.
Auch als Menachem Begin und der Likud 1977 an die Macht kamen, hieß es, die Demokratie sei in Gefahr. Wie gespalten ist Israel?
Bei Begin haben sich die Menschen geirrt. Jetzt aber ist die Gesellschaft tief gespalten. Nicht nur zwischen links und rechts, sondern auch zwischen Religiösen und Säkularen, Juden und Arabern. Die israelische Demokratie hat in den letzten 75 Jahren funktioniert, auch wenn sie wie in vielen Ländern fragiler geworden ist. Allerdings brachen die größten Kriege, 1967 und 1973, jeweils unter einer sehr schwachen Regierung aus. Ein ähnliches Szenario haben wir jetzt.
In vielen Ländern gibt es eine Debatte über die Macht der Justiz, in Ungarn, Polen oder der Türkei. Sehen Sie die Regierung eines dieser Länder als Vorbild?
In diesen Ländern herrscht eine ganz andere Situation. Netanjahu ist kein ideologischer Rassist und eigentlich ein Verfechter der liberalen Demokratie wie in den USA. Er ist auch nicht der allmächtige Mann wie in anderen Staaten. Um zu regieren, ist er abhängig von den nationalreligiös-rechtsradikalen Parteien. Aber mit Sicherheit wäre es in der israelischen Politik ohne ihn viel leichter.
Die neue Regierung möchte die Justiz schwächen, was auch gut für den unter Korruptionsverdacht stehenden Ministerpräsidenten wäre. Ist das der erste Schritt, um die Demokratie abzuschaffen?
Netanjahu will sich mit allen Mitteln gegen die Justiz verteidigen, die er wahrscheinlich hasst. Eine Demokratie aber funktioniert nicht ohne eine unabhängige Justiz und diese ist in Israel in der Tat ziemlich stark. Vielleicht gibt es Gründe, sie zu reformieren, aber nicht so, wie es die jetzige Regierung im Parlament durchsetzen will, damit diese gleichzeitig immer mächtiger wird und das oberste Gericht nichts mehr zu sagen hat. Das ist ein Fehler und eine große Gefahr.
Gibt es Anzeichen auf einen Kompromiss?
Die Demonstrationen haben vielleicht eine Wirkung. Der Druck aus dem Ausland, speziell aus den USA, könnte auch entscheidend sein. Da ist die israelische Regierung empfindlich, vor allem Netanjahu. Auch in Deutschland gibt es eine Debatte über die Demokratie im jüdischen Staat, die ich positiv sehe. Diese ist vor allem deshalb interessant, weil sie meiner Meinung nach eine innerdeutsche Diskussion über die eigenen Grundwerte ist.
Verwandelt sich Israel in eine Theokratie?
Eine gespaltene Gesellschaft kann manchmal auch von Vorteil sein. Die landesweiten Massendemonstrationen beweisen, dass es weiterhin einen demokratischen Teil gibt. Allgemein aber ist der jüdische Staat in den letzten Jahren nach rechts gerückt. Das zeigen auch Umfragen bei der israelischen Jugend, wie sie unter anderem die Friedrich-Ebert-Stiftung ständig durchführt. Man ist rechts, hat aber auch ein starkes demokratisches Gefühl. Hier gehen diese Dinge zusammen.
Was würde die Justizreform in Israel für die Minderheiten wie Araber, Drusen und andere bedeuten?
In Israel schützt das Oberste Gericht die Demokratie. Diese Instanz ist nicht perfekt, denn sie vertritt seit Jahren nicht so richtig die orientalisch-jüdische, orthodox-jüdische oder auch arabische Bevölkerung. Aber jetzt ist die Blase geplatzt und die Grundwerte sind in Gefahr. Für die Minderheiten in Israel könnte das langfristig eine Bedrohung bedeuten. Die Regierung könnte beispielsweise beschließen, dass israelische Araber nicht mehr wählen dürfen, sie könnte Frauen verbieten, mit kurzen Hosen in die Öffentlichkeit zu gehen, oder sie könnte Hotels untersagen, Zimmer an Menschen aus den LGBTQ-Gemeinden zu vermieten.
Israel als Diktatur? Welche Folgen hätte das für das israelische Ansehen in der Welt?
In vielen Bereichen ist Israel von der internationalen Gemeinschaft abhängig, deshalb ist es wichtig, dass Druck von außen komm. Doch in den besetzten Gebieten gibt es bereits eine Diktatur und seit 1967 eine systematische Unterdrückung der Palästinenser, die oft mit blutigen Terroranschlägen antworten. Und seit über 50 Jahren hat die Welt nicht viel dagegen unternommen, wenn auch immer die Hoffnung bestand, dass die Besatzung bis zu einem erfolgreichen Friedensprozess nur temporär sei.
Aber ist Israel nicht ein Rechtsstaat, in dem die Menschen Grundrechte haben, die vom Staat zu schützen sind?
Der Staat Israel hat noch keine endgültige Verfassung. Es gibt stattdessen eine Reihe von sogenannten Grundgesetzen.
Wieso hat Israel keine Verfassung?
Seine Unabhängigkeitserklärung verspricht eine Verfassung mit einem präzisen Datum, nur wenige Monate nach der Staatsgründung. David Ben-Gurion, der erste Premierminister, erkannte schon damals, dass die Gesellschaft zu gespalten war, um sich auf Grundwerte zu einigen, die für eine Konstitution notwendig sind. Damit meinte er besonders die orthodoxe Bevölkerung, die das Grundgesetz in der Religion sehen und keine säkular gemachte Verfassung anerkennen. Viele von ihnen erkennen auch heute noch von Menschen gemachte Israel nur ungern an. Selbst wenn sie manchmal als seine Minister fungieren.
Könnte es zu einem Umsturz kommen oder sogar Bürgerkrieg?
Schwer vorstellbar, aber man kann es nicht ausschließen. Die Demokratie ist ein System, das auf zwei Arten zerstört werden kann: entweder von unten, also beispielsweise durch einen Putsch, oder von oben, wie das jetzt in Israel passiert.
Bei einer so gespaltenen Gesellschaft und einer so schwachen Regierung, könnten da Israels Feinde wie der Iran und seine Helfer eine Chance wittern?
Im Iran und im Libanon spricht man ständig vom Untergang Israels und dass jetzt - wie prophezeit - alles auseinanderbricht. Aber das ist alles schwer einzuschätzen. Aus Protest vor der drohenden Justizreform verweigern schon viele hohe israelische Reserveoffiziere ihren Dienst. Dass sie auch bei Kriegsausbruch untätig zugucken würden, kann ich mir nicht vorstellen. Aber es ist auf jeden Fall eine beängstigende neue Terminologie.
In Ihrem jüngsten Buch "Jerusalem Ecke Berlin: Erinnerungen" schreiben Sie, dass Ihre Eltern nicht so richtig dazugehörten. Fühlen Sie sich noch als Teil der israelischen Gesellschaft?
Das Buch beschreibt, was ich an Israel liebe und was nicht. Leider mag ich diesen Staat immer weniger. Natürlich lebt meine Familie hier, doch die gesamte Situation und der drohende Beginn einer neuen dunklen Epoche dieses Landes machen mich sehr unglücklich. Ich hoffe, dass die Demonstrationen und der öffentliche Druck von außen die Regierung zum Einlenken bewegen. Denn Israel muss vor sich selbst gerettet werden.
Mit Tom Segev sprach Tal Leder
Quelle: ntv.de