Europäische Flüchtlingspolitik Was tun mit diesen Menschen?
03.07.2014, 08:41 Uhr
Nach Angaben der Grenzschutzagentur Frontex haben im ersten Halbjahr 2014 deutlich mehr Menschen versucht, auf illegalem Wege nach Europa zu flüchten als im Vorjahreszeitraum. Es ist von fast 60.000 Menschen die Rede.
(Foto: REUTERS)
Bundespräsident Gauck will eine gerechtere und anständigere europäische Asylpolitik. Solch hehre Ziele sind schnell formuliert. Gerade bei der Flüchtlingspolitik gibt es aber gewaltige praktische Hürden.
Joachim Gauck macht klare Ansagen zur europäischen Flüchtlingspolitik: "Wir könnten mehr tun. Wir könnten manches besser tun. Vor allem sollten wir es gemeinsam als Europäer tun." Der Bundespräsident fordert größere Aufnahmebereitschaft. Er pocht darauf, nicht nur an den Schutz der Grenzen der EU zu denken, sondern auch an den Schutz von Menschenleben an diesen Grenzen. Und er erwartet mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Das war am Montag bei Gaucks Grundsatzrede in Berlin. Ein paar Tage später klingen diese Worte noch nach. Doch es drängt sich vor allem ein Satz auf: Das ist ziemlich leicht gesagt, aber unfassbar schwer getan. Im Innenausschuss des Bundestages sitzt auf Betreiben der Linkspartei ein halbes Dutzend Experten und spricht über die Mängel der europäischen Flüchtlingspolitik. Hört man ihnen zu, erscheint eine Lösung sehr fern.
Einigkeit herrscht nur in einem Punkt: So bleiben wie es ist, kann es nicht. Das Beispiel Lampedusas haben noch immer alle vor Augen. Im vergangenen Oktober ertranken vor der Mittelmeerinsel fast 400 Flüchtlinge bei dem Versuch, Europa mit einem überfüllten Kutter zu erreichen. Bilder von einem Hangar voller Särge gingen um die Welt. Bilder, die für eine noch viel größere Katastrophe stehen: In den vergangenen 20 Jahren verloren Schätzungen zufolge mehr als 20.000 Menschen ihr Leben auf diese Weise.
Es geht nicht mit und auch nicht ohne Frontex
Doch was tun? Die Linke fordert mit einem Antrag, der gewissermaßen die Diskussionsgrundlage für die Ausschusssitzung ist, Frontex aufzulösen. Die europäische Grenzschutzagentur hat den Ruf, so etwas wie eine Festung Europas zu schaffen, dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge gar nicht erst auf legalem Wege Asyl beantragen können. Einige Kritiker sagen ihr gar nach, Flüchtlingsboote abzudrängen. Der leitende Frontex-Mitarbeiter Klaus Rösler, einer der Experten im Ausschuss, setzt alles daran, mit diesem Image aufzuräumen: "Für Frontex gehören effektiver Grenzschutz und Grundrechtsschutz zusammen", sagt er. Ein Rückzug der Agentur würde die Lage nicht verbessern sondern verschlechtern. An sogenannten Push-Backs, dem Abdrängen von Flüchtlingsbooten sei die Agentur nie beteiligt gewesen. Vielmehr sorge Frontex dafür, dass sich die Küstenwachen einzelner Mitgliedstaaten an die Regeln der EU halten. Dazu muss man wissen, dass Frontex über rund 300 Mitarbeiter verfügt und ein Budget von knapp 90 Millionen Euro hat. Die Agentur ist weit davon entfernt, selbstständig die Grenzen Europas zu schützen, und das soll sie auch gar nicht. Hauptaufgabe von Frontex ist es, das Vorgehen der Grenzschützer der einzelnen Mitgliedstaaten zu planen und zu koordinieren.

Bundespräsident Gauck: "Wir könnten mehr tun. Wir könnten manches besser tun. Vor allem sollten wir es gemeinsam als Europäer tun."
(Foto: dpa)
Auch der Frontex-Kritiker Günter Burkhardt von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl unterstellt der Agentur nicht ausdrücklich, an Push-Backs oder anderen Formen menschenrechtswidrigem Umgangs mit Flüchtlingen beteiligt gewesen zu sein. Gerichtsfeste Beweise gebe es dafür nicht, sagt er. Er wirft den europäischen Grenzschützern allerdings vor, den nationalen Küstenwachen Informationen über Flüchtlingsströme zu liefern, die diese dann ausnutzen, um ohne das Wissen von Frontex, Push-Back-Aktionen durchzuführen. Und er verweist auf etliche Beispiele unter anderem von der Seegrenze der Türkei und Griechenlands. Es ist ein Dilemma. Ohne Frontex hat Brüssel keine Institution, die die Umsetzung europäischer Abkommen beim Grenzschutz anstoßen und kontrollieren könnte. Mit Frontex besteht die Gefahr, dass die Agentur ein gefährliches Eigenleben entwickelt, einzelne Mitgliedstaaten sie missbrauchen oder als Sündenbock ausnutzen. Und auch ganz ohne Grenzschutz geht es wohl nicht, schließlich kommen nicht nur Menschen mit einem Anspruch auf Asyl. Experten wie Burkhardt hoffen darauf, dass Flüchtlinge bald schon im Ausland Asyl in der EU beantragen dürfen, zum Beispiel an den Botschaften der Mitgliedstaaten. Die großen Fragen dabei sind: Wie bekommt man diese Menschen dann nach Europa? Kann man das für alle Asylsuchenden überhaupt bezahlen? Falls nicht: Wie sucht man aus?
Freie Wahl für alle?
Mindestens genauso schwierig erscheint die Frage: Was tun mit den Flüchtlingen, die es nach Europa schaffen? Mit der sogenannten Dublin-Verordnung gibt es zwar ein europäisches Regelwerk. Nur sorgt das nicht für eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge. Asylsuchende sind verpflichtet in dem europäischen Land Schutz zu beantragen, dass sie als erstes betreten haben. Da sich die wenigsten Flüchtlinge ein Flugticket leisten können, geschweige denn die Voraussetzungen für ein Visum erfüllen, bleibt ihnen nur der Weg über Meer oder Land, der sie gezwungenermaßen an die EU-Außengrenzen führt. Reist ein Flüchtling trotzdem in einen Staat im Zentrum der EU weiter, darf der sie zurück nach Griechenland, Italien oder Spanien schicken. Die Folge: Einige Staaten leisten viel, andere sehr wenig.
Jan Schneider vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration plädiert daher für ein Quotensystem. Als grobe Grundlage sollen Wirtschaftskraft, Bevölkerungsgröße, Landesfläche und Arbeitslosenquote liegen. Ein Land wie Schweden, Primus in Sachen Flüchtlingsaufnahme, leistet nach dieser Rechnung derzeit zu viel. Es hat zwischen 2009 und 2013 mehr als 180.000 Flüchtlinge aufgenommen. Fair im Sinne dieser Rechnung wären 49.000 gewesen. Auf der anderen Seite gibt es Länder wie Estland. Der EU-Staat hat im selben Zeitraum 320 Flüchtlinge aufgenommen. Fair gewesen wären mehr als 7000. Die Bundesrepublik erfüllt nach dieser Berechnung ihren Soll. Einen Spitzenplatz belegt sie nicht, liegt aber immerhin im oberen Mittelfeld. Müssten die Mitgliedsstaaten sich also nur auf einen Schlüssel für die Quoten einigen, und das Problem wäre gelöst? Was in der Theorie wie ein probates Mittel wirkt, stößt schnell an praktische Grenzen.
"Es wird nie möglich sein, genug zu tun"
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach, schmettert Schneider entgegen: "Sie kommen aus der Wissenschaft, wir kommen aus dem richtigen Leben." Nach den Zahlen sei das ja ganz einfach: in Deutschland 40.000 zu viel, in Großbritannien 40.000 zu wenig. "Aber nach welchem System wollen Sie jetzt die 40.000, die von Deutschland nach Großbritannien umziehen müssen, auswählen?" Bosbach weist auf individuelle Schicksale hin. "Dann sagt doch einer: Ich hab sieben Verwandte hier, warum muss ich jetzt gehen?" Schneider spricht von Anreizsystemen statt Zwang, sagt aber auch: "Ob diese weichere Politik praktikabel ist, steht auf einem anderen Blatt." Wie die Einhaltung der Quoten am Ende erreicht wird, sei eine politische Frage.
Mindestens genauso hitzig wird im Ausschuss der Vorschlag debattiert, die Flüchtlinge selbst entscheiden zu lassen, wo sie leben wollen. Die Staaten, die sie daraufhin aufnehmen müssen, bekommen dafür von weniger belasteten Mitgliedsländern Ausgleichszahlungen. Doch diese sogenannte Free-Choice-Lösung birgt die Gefahr, dass es einen Wettstreit zwischen den EU-Mitgliedern gibt, den Flüchtlingen ein möglichst unattraktives Leben zu bieten, damit sie sich für einen anderen Ort entscheiden.
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hat die Forderung des Bundespräsidenten mehr in der Flüchtlingshilfe zu tun, und das besser und gemeinsam, prompt nach seiner Grundsatzrede angegriffen. "Auch für Gauck gilt: Trotz eines ehrenwerten Motivs wird rhetorische Flüchtlingshilfe zur selbstgerechten moralischen Masche, solange praktische Probleme nicht wahrgenommen werden", heißt es in dem Blatt. Das ist ein hartes Urteil. Denn andererseits gilt für einen Bundespräsidenten auch: Er macht seinen Job gut, wenn er Debatten anstößt. Die EU bemüht sich schon seit vielen Jahren um eine effektive gemeinsame Flüchtlingspolitik. Es geht nur langsam voran. Und die Folgen treten immer drastischer in Erscheinung. Ein wenig Druck kann da vielleicht nicht schaden. Zudem formuliert Gauck nicht nur hehre Ziele. Mit einem Satz stellt er klar, dass ihm das Dilemma der Flüchtlingspolitik durchaus bewusst ist. Gauck sagt auch: "Es wird nie möglich sein, genug zu tun."
Quelle: ntv.de